Nicht selten ist von deutschen StudentInnen – besonders in den Großstädten – zu hören, dass man an den Universitäten schnell Gefahr laufen könne, in der Masse der Tausenden unterzugehen; sich mehr wie ein Individuum zu fühlen, das in einer Koexistenz zu den anderen lebt, als organischer Teil einer studentischen Gemeinschaft zu sein, die sich aus dem sozialen Miteinander formt. Von all jenen, die es nicht bei punktuellem Austausch und neben den Veranstaltungen geschlossenen Freundschaften bewenden lassen wollen, werden proaktives Handeln und Wille zum Engagement verlangt. Beispielsweise, um sich mit anderen StudentInnen in einer Hochschulgruppe zu organisieren oder den Hochschulsport zu besuchen. Selbstredend halten die Universitäten ein reichhaltiges Angebot an studentischen Aktivitäten bereit und wer sucht, wird letzten Endes auch finden. Doch längst nicht allen fällt dies so leicht, wie es zunächst klingen mag und sie bleiben zurück mit dem Eindruck, dass das Verhältnis zur Universität, auch mit Blick auf die Beziehung zwischen Lehrenden und Studierenden, letzten Endes ein distanziertes ist.
Stichwort Distanz: Dem Kern des Problems sehr nahe könnte man in diesem Zusammenhang kommen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass StudentInnen in Deutschland auch ganz real, jenseits von an der Uni erlebter Einsamkeit und Individualisierung, voneinander entfernt leben. Wer StudentIn ist, begibt sich für gewöhnlich auf die teils beschwerliche Suche nach einer Wohngemeinschaft (WG), einem Zimmer in einem Studierendenwohnheim oder lebt weiterhin bei den Eltern. Dadurch verteilt sich die Studierendenschaft überwiegend auf die einzelnen Stadtviertel. Wenige Ausnahmen, in denen Studieren und Wohnen geographisch zusammen gedacht und entsprechend realisiert wurden, bestätigen in deutschen Städten die Regel, dass der Großteil der Universitäten mit auf das Stadtgebiet verteilten Campussen ebenfalls dezentral organisiert ist.
Dass es auch ganz anders gehen kann, erlebt unsere Gruppe mitunter intensiv hier am studentischen Campus der polytechnischen Universität CUJAE am Rande von Kubas Hauptstadt Havanna.
Dessen Konzept der unmittelbaren Nähe von Universität und Studierendenwohnheimen steht im Kontrast zur erwähnten Distanz von Universitätsgebäuden und den diversen Formen von studentischen Unterkünften in Deutschland, aus denen man täglich zu den Veranstaltungen „anreist“. Der Campus erstreckt sich jenseits der Fakultäten und Uni-Hauptgebäude auf einem weiten Areal, das von einer Mauer oder lediglich hohen Zäunen umgeben ist, die vor nicht-autorisierten bzw. ungebetenen Gästen (vergangenes Jahr gelangte ein dem Sicherheitspersonal unbekannter Mann auf das Gelände und stahl Habseligkeiten aus einem der Wohnheime) schützen sollen. Hat man auf legalem Weg mittels Studentenausweis die bewachte Pforte des Haupteingangs passiert, liegen gleich zur Rechten die Sportanlagen der Universität, darunter Basketball-, Volleyball- und Fußballplätze sowie ein großes Schwimmbecken, das jedoch in Ermangelung der Chemikalien zur Aufbereitung des Wassers die meiste Zeit über nicht gefüllt ist und seinen Betrieb erst für die alljährlichen Sportfestspiele des 13. März aufnimmt. Gleich dahinter liegen die Studierendenwohnheime, die mehr ihren funktionalen Ansprüchen genügen, als dem Auge des Betrachtenden zu schmeicheln. Sieht man einmal von der offensichtlichen Renovier-Bedürftigkeit ab und bewertet die Gebäude als Mittel zu einem sozialen Zweck, die sie den BewohnerInnen ohne Zweifel sind, ändert sich der Blickwinkel.
Fast die Hälfte der knapp 7000 StudentInnen an der CUJAE wohnt unter der Woche direkt auf dem Campus und somit in unmittelbarer Nähe zu den jeweiligen Fakultäten. Bei der Platzvergabe bevorzugt werden diejenigen, die nicht in der Hauptstadt wohnen und morgens nicht mit dem Bus anreisen können. Für die meisten dieser „cujaeños“ geht es am Wochenende nach Hause, um die eigene Familie zu besuchen. Vorausgesetzt, sie wohnt nicht auf der anderen Seite der Insel. Dann lohnen sich die oft langwierige An- und Abreise kaum und das Wochenende ist schon wieder passé, bevor man richtig zur Ruhe kam. Folglich wohnt manch eine/r sogar bis zu den nächsten Ferien auf dem Campus – und das bringt so manche Vorteile mit sich.
Offiziell sind die Wohnheime nach Geschlechtern aufgeteilt. Faktisch lassen sich allerdings, dem regen Sozialleben der KubanerInnen sei Dank, überall auf den Gängen und in den Zimmern sowohl Frauen als auch Männer antreffen. Bisweilen könnte man ohne entsprechende Ortskenntnis kaum sagen, um wessen Wohnheim es sich handelt. Auch von den widrigen Bedingungen in den Zimmern und der stark eingeschränkten Privatsphäre (wir wohnen zu zweit in einem Zimmer, das sich üblicherweise sechs bis acht KubanerInnen teilen) lässt man sich den nach einem langen Uni-Tag benötigten Spaß keinesfalls verderben. Spaziert man über den Campus, ist häufig aus mehreren Richtungen laute Musik zu hören. Und fällt für kurze oder lange Zeit der Strom aus und man sitzt vom einen Moment auf den anderen gemeinsam im Dunkeln, wird von Haus zu Haus um die Wette gegrölt und die eigentlich lästige Störung mit reichlich Humor genommen. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Überdies bedeutet Stromausfall eine erzwungene und zugleich willkommene Pause vom Studium. Das Gejohle schlägt in frenetischen Jubel um, wenn das Licht wieder angeht. In Sachen Inneneinrichtung wird außerdem das Möglichste getan, um die spartanisch eingerichteten Zimmer heimeliger zu machen und den Komfort zu erhöhen. Schließlich stellt der Campus für die „cujaeños“ in den kommenden Studienjahren das neue Zuhause dar. Wöchentlich findet eine kleine Feier mit moderner lateinamerikanischer Musik an der sogenannten „juguera“ statt, die mit ihren vielen Sitzgelegenheiten, den Wandtelefonen (um auch ohne Smartphone die Familie zu erreichen) und der Cafeteria eine Art zentraler Versammlungsort für alle ist. Neben der „juguera“ hat die Universität einen 24-Stunden-Dienst zur medizinischen Erstversorgung eingerichtet.
Die StudentInnen an der CUJAE gehen mit dem kubanischen Staat quasi einen „Deal“ ein. Dieser ermöglicht ihnen das kostenfreie Studium und, sofern alles nach Plan verläuft, den angestrebten Abschluss. Dazu zählt für die „cujaeños“ auch das kostenlose Wohnen auf dem Campus. Obwohl nicht allen ein Platz in einem Wohnheim angeboten werden kann, ist die Quote mit annähernd 50 Prozent untergebrachten StudentInnen dennoch ausgesprochen hoch. Für die kostenfreie Verpflegung ist ebenfalls durch eine Mensa gesorgt. Da sich deren Essen unbestreitbar auf einem qualitativ niedrigen Niveau bewegt, wird das Angebot noch privatwirtschaftlich durch kleine Imbissbuden auf dem Campus und hauptsächlich von den beliebten „quioscos“ gegenüber der Bushaltestelle der Universität ergänzt. Obendrein erhält jede/r StudentIn monatlich eine kleine finanzielle Zuwendung vom Staat. Im Gegenzug absolvieren die StudentInnen nach dem Abschluss den sogenannten „servicio social“ und sind für maximal zwei Jahre in einem staatlichen Unternehmen beschäftigt. Danach steht es ihnen frei, sich nach anderen ArbeitgeberInnen umzusehen oder im kubanischen Privatsektor eine berufliche Zukunft zu suchen. Die Universität bietet allen StudentInnen darüber hinaus Freizeitprogramme wie Sport- und Tanzkurse an, die an den Nachmittagen stattfinden und gut nachgefragt sind. Den (hochschul-)politisch Interessierten eröffnen sich Möglichkeiten des Engagements in der kommunistischen Jugendorganisation (UJC) und der Studierendenorganisation (FEU), in der grundsätzlich jede/r automatisch Mitglied ist und welche sich nicht nur für die Interessen der StudentInnen einsetzt, sondern auch Feiern und verschiedene Events organisiert. Weiterhin haben es sich die am Campus angesiedelten „excursionistas“ zur Aufgabe gemacht, das eigene Land zu erkunden. Sie organisieren diverse Ausflüge, für die sich Interessierte anmelden können.
In einen absoluten Ausnahmezustand gerät die gesamte Universität anlässlich der Sportfestspiele des 13. März. Diese dauern insgesamt drei Wochen an und bieten allen Begeisterten die Gelegenheit, sich für ihre Fakultät in einer oder mehreren Disziplinen mit den anderen Fakultäten zu messen. Von unkonventionelleren Sportarten wie Wasserball und Judo bis hin zu Leichtathletik und Fußball wird alles geboten. Schon lange vor Beginn des Turniers in diesem Jahr nahmen wir wahr, wie sich die Rivalitäten unter den StudentInnen entzündeten und vermehrt auf dem Campus trainiert wurde, um den Körper (wieder) in Form zu bringen. Spätestens bei den Wettkämpfen trägt man die eigene Fakultät, deren Logos Raubtiere zieren, stolz im Herzen oder auf ein T-Shirt gedruckt zur Schau.
Nicht zuletzt die Sportfestspiele stehen exemplarisch für ein Gefühl sozialer Zusammengehörigkeit, das sich kaum von außen kreieren lässt, sondern vielmehr aus dem Gefüge von Campus und Universität heraus geboren wird. Dessen Essenz besteht in einem kontinuierlichen Beisammensein, regem Austausch sowie den regelmäßig sich bietenden Gelegenheiten, auch über den Stundenplan hinaus an der CUJAE zu verbleiben. All das ist angesichts der schwierigen Lebensbedingungen keine Selbstverständlichkeit. Weil man hier trotzdem ein solches Miteinander erfahren kann, wird der baldige Abschied umso schmerzlicher ausfallen.
Dies ist ein Artikel von Paul. Seine übrigen Artikel auf dem Blog heißen: ¡Llegamos en Cuba Socialista!, Ein neuer Partner, La Habana und ihre revolutionäre Architektur und Kubanische Kristalle.
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