Kubanische Kristalle

Wir befinden uns auf einem Streifzug durch das Nachtleben Havannas. Kubanisch formuliert: „Estamos habaneando“. Mental müde vom dreistündigen Philosophie-Kurs in der Universität und körperlich geschafft von der winterlichen Hitze (!) der Hauptstadt steuern wir zunächst ein Café an, denn auch der Koffeinspiegel ist besorgniserregend niedrig. Die Kellnerin nimmt die Bestellungen auf. Unsere kubanischen Freunde wollen sich zusätzlich zum Kaffee mit einem Softdrink erfrischen. Daran scheint für uns auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches zu sein. Wer käme denn nicht auf die Idee, auf bitter und heiß, süß und kalt folgen zu lassen?

Kurz darauf wird serviert. Vor jedem steht eine dampfende Tasse des braunen Goldes, von dem die halbe Welt abhängig zu sein scheint. So einfach und doch irgendwie genial lässt sich ein ermattender Tag kurzweilig ausblenden. In diesem von kulinarischer Leidenschaft beseelten Augenblick können wir uns kaum etwas Besseres als den kräftigen Geschmack kubanischen Kaffees in seiner absoluten Reinheit vorstellen. Doch umgehend müssen wir feststellen, dass es beileibe nicht allen am Tisch so ergeht.

Als sei der Zuckergehalt des Softdrinks noch lange nicht genug, langen unsere Freunde beherzt in die Mitte des Tisches nach der Zuckerdose und schaufeln sich wortwörtlich einen Teelöffel nach dem anderen in die Tassen. Das pure, braune Gold verwandelt sich in einen heißen Softdrink oder besser gesagt in Zuckermasse mit Kaffeearoma. So jedenfalls beurteilen wir diesen Vorgang, der letztlich nur eines von vielen Beispielen für den Zuckerkonsum der KubanerInnen ist, der kaum ein Limit und schon gar keine Tagesrationen kennt. Auch wir sind, das muss an dieser Stelle so nüchtern konstatiert werden, meilenweit davon entfernt, uns dem zu entziehen.

Wir beschließen, der Sache auf den karamellisierten Zahn zu fühlen.

(Verkauf des Zuckersafts „Guarapo“, der frisch aus Zuckerrohr gepresst wird)

Das – nicht nur auf Kuba – omnipräsente Produkt Zucker impliziert, das wird während eines ersten „brainstormings“ schnell deutlich, gesundheitliche, wirtschaftliche, kulturelle und nicht zuletzt politische Fragen. Diese wollen wir im Folgenden übersichtsartig abbilden und anschließend beantworten:

  1. Was ist Zucker und welche Wirkung hat sein Konsum auf uns?
  2. Gibt es Belege für übermäßigen Zuckerkonsum und gesundheitsschädigende Folgen auf Kuba?
  3. Welche Rolle spielte und spielt noch heute die Zuckerproduktion auf der Insel?
  4. Woher könnte das Verlangen nach Gezuckertem auf Kuba kommen?
  5. Gibt es Reaktionen seitens des kubanischen Staates?
  6. Welche Rolle spielt – verglichen mit dem Inselstaat – Zucker in Deutschland?

Zucker ist, darüber dürften sich die meisten im Klaren sein, nicht nur ein hergestelltes Süßungsmittel, das nach Bedarf und Geschmack zu Speis und Trank hinzugegeben wird. Der Begriff vereint letztlich diverse Arten von Zucker, die in ihren Grundbestandteilen Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff einen ähnlichen Aufbau besitzen und entweder natürlich in Lebensmitteln vorkommen oder erst gewonnen bzw. raffiniert werden müssen. Die bekanntesten Beispiele sind der Traubenzucker Glucose, der Fruchtzucker Fructose und der Milchzucker Lactose. Sie zählen zu den Einfachzuckern. Beim Zweifachzucker handelt es sich um den sogenannten Haushaltszucker unterschiedlicher Qualitätsstufen, der industriell hergestellt wird. Letzterer wird den verschiedenen Lebensmitteln, in manchen Fällen zusätzlich zum natürlich vorkommenden Einfachzucker, zugesetzt. Wie so häufig liegt das Problem in der Menge des verzehrten Haushaltszuckers. Aufgrund seines weltweit zu hohen Konsums veröffentlicht die Weltgesundheitsorganisation WHO Empfehlungen für die maximale tägliche Zufuhr. Sie liegt bei 25 Gramm pro Tag, was einer jährlichen Menge von etwas mehr als neun Kilogramm Haushaltszucker entspricht. Nach den Richtlinien der WHO ist es allerdings nicht notwendig, den natürlichen Einfachzucker aus Obst, Getreide, Milch und sonstigen stärkehaltigen Lebensmitteln zu regulieren, ergo die zugeführte Tagesmenge einzuschränken.

Im Körper gelangt Zucker nach einem mehrstufigen Verdauungsprozess über den Darm direkt in den Blutkreislauf. Vereinfacht formuliert steigt daraufhin der sogenannte Blutzuckerspiegel an und der Körper muss das Hormon Insulin ausschütten, um den Zucker weiter in die Zellen zu transportieren. Er liefert unter anderem dem Gehirn wichtige Energie. Nimmt ein Mensch jedoch zu viel Zucker zu sich, kann dies zu Übergewicht und Adipositas, Diabetes Mellitus Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und bestimmten Krebserkrankungen führen. Die Entstehung der genannten Krankheiten korreliert mit übermäßigem Zuckerkonsum. Das Risiko erhöht sich, wenn die Ernährung insgesamt schlecht oder unausgewogen ist und der Körper unzureichend bewegt wird. Außerdem nährt Zucker die im Mund befindlichen Kariesbakterien und greift die Zähne an. Fest steht zudem, dass Zucker das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert und der Mensch sich durch die evozierte Ausschüttung von Glückshormonen an ein gewisses Pensum von Süßem bzw. süß-fettigen Speisen gewöhnen kann. Nach wissenschaftlichem Stand birgt der Konsum von Zucker sogar ein mögliches Sucht-Potenzial. Darüber hinaus kann das Verlangen zwecks Steigerung der Glücksgefühle stetig zunehmen. Ein gewisses Faible für Süßes ist uns jedoch schon mit der Muttermilch in die Wiege gelegt worden, sodass zumindest die natürlich entwickelte Präferenz nicht prinzipiell zu verurteilen ist.

Betrachtet man, die WHO-Ratschläge vor Augen, die Zahlen zum weltweiten Zuckerkonsum pro Kopf und Jahr, thront im Ländervergleich mit weitem Abstand über allen der kleine Inselstaat aus der Karibik. Auf schier unglaubliche 71,8 Kilogramm im Durchschnitt brachten es die KubanerInnen im Jahr 2017, Tendenz leicht steigend. Auf Rang zwei folgt Australien mit durchschnittlich 58,4 Kilogramm pro EinwohnerIn. Es bedarf kaum weiterer Erläuterungen, um zu erkennen, dass Zucker auf Kuba tatsächlich in exorbitanten Mengen zu sich genommen wird. Dies spiegelt sich auch in unserem Alltag mit den kubanischen StudentInnen wider. Kaum eine/r kann nein zu einem Softdrink, einem Milchshake oder sonstigen, nahe der Universität angebotenen Süßigkeiten sagen. Wie zu Beginn angedeutet, scheint es ebenfalls keine Rolle zu spielen, ob man am Tag bereits viel Zucker zu sich genommen hat. Vielmehr könnte man zugespitzt sagen, dass sich die meisten diese Frage erst gar nicht stellen. Ähnliche gezuckerte Erfahrungen lassen sich beispielsweise in Brasilien machen. Kuba ist somit kein Sonderfall in der Region, denn auch andere latein- bzw. südamerikanische Staaten weisen einen hohen Zuckerkonsum in der Bevölkerung auf.

Ende Mai des vergangenen Jahres vermeldete die Parteizeitung Granma, dass Diabetes mittlerweile zur achtgefährlichsten Krankheit in Kuba zähle, da sie die Wahrscheinlichkeit von Folgeerkrankungen wie einer nachhaltigen Schädigung der Herzkranzgefäße drastisch erhöhe. Diabetes kann demnach die Lebenserwartung verringern und indirekt durch die Folgeerkrankungen zum Tod führen. Weiterhin ist in dem Artikel von einer „stillen Epidemie“ durch Fettleibigkeit mit erhöhtem Risiko von Diabetes die Rede. Den befragten WissenschaftlerInnen zufolge sei es eminent wichtig, sich hinreichend zu bewegen und eine gesunde Ernährung ohne übermäßige Zufuhr von Kohlenhydraten, die insbesondere durch fettige und gezuckerte Lebensmittel aufgenommen werden, zu pflegen. Zucker liefert dem Körper die unverzichtbaren Kohlenhydrate, die auch Bestandteile anderer Nahrungsmittel wie Kartoffeln sind. Insgesamt litten 6,2% der KubanerInnen an Diabetes Typ 1 und Typ 2 (im zweiten Teil des Artikels wird diese Zahl in Relation zu Diabetes in Deutschland gesetzt).

Die Zuckerproduktion bildete wie auch in anderen Ländern der Karibik den zentralen Wirtschaftssektor Kubas und selbst heute kommt ihr eine besondere ökonomische Bedeutung zu. Aufgrund der Entwicklung des Zuckerhandels im 20. Jahrhundert musste das Land seinen Status als größter Zuckerexporteur der Welt jedoch abgeben.   Das Zuckerrohr stammt ursprünglich aus Indien, von wo sich die Pflanze zunächst weiter nach China und das damalige Persien ausbreitete, bis sie schließlich durch Marco Polo und die Araber in Spanien ihren Weg nach Europa fand. Nach der Entdeckung der neuen Welt durch Christoph Kolumbus brachte dieser bei seiner dritten Reise im Jahr 1498 schließlich auch das Zuckerrohr mit in die Karibik. Der conquistador (Eroberer) Diego Velázquez führte es daraufhin in Kuba ein. Man begann mit der Kultivierung der Pflanze und stellte in einer vorerst primitiven Form Zucker her, der zum Handel mit anderen Kolonien und Piraten für den Kauf von Sklaven verwendet wurde. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts errichteten die spanischen Kolonialherren erste Zuckermühlen, um die Produktion zu verbessern und auszuweiten. Nachdem zuvor andere Kolonien wie Haiti und die heutige Dominikanische Republik mit ihren Industrien die Zuckerproduktion dominiert hatten, nahm die Kommerzialisierung insbesondere ab dem Jahr 1762 mit der vorübergehenden Eroberung Havannas durch die Engländer deutlich zu. Ende des 18. Jahrhunderts produzierte Kuba jährlich 6000 Tonnen Zucker mit über 600 Zuckermühlen.

Die sogenannte „Große Ära“ der Zuckerproduktion auf Kuba begann mit der Einführung der Dampfmaschine im frühen 19. Jahrhundert. Bereits 1830 hatte man die Produktionsbedingungen derart modernisiert, dass die produzierte Menge auf 94.000 Tonnen anstieg und mithilfe der Dampfeisenbahn (Kuba war das erste lateinamerikanische Land mit Schienenverkehr) ab 1837 weiter expandieren konnte. 1894 betrug die produzierte Menge über eine Million Tonnen Zucker. Nach dem Triumph der Revolution 1959 – die Produktionsmenge betrug mittlerweile durchschnittlich fünf Millionen Tonnen pro Jahr – setzte eine Diversifizierung der Landwirtschaft ein, auch um die Abhängigkeit von der Zuckerproduktion zu reduzieren. Nichtsdestotrotz sollte Zucker für weitere 30 Jahre die führende Rolle in der Entwicklung der kubanischen Wirtschaft spielen. In den 1970er-Jahren erreichte die Produktionsmenge mit 8 Millionen Tonnen ihren Höchststand. Die darauffolgenden 1980er-Jahre waren von einer forcierten Diversifizierung der kubanischen Wirtschaft geprägt. Man entschied, den Tourismus zu intensivieren und etablierte weitere Sektoren wie die Pharmazie und Biotechnologie. Vom Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 hat sich die Zuckerindustrie des Landes bis heute nicht erholt, denn Kuba verlor seinen wichtigsten Handelspartner und Abnehmer von Zucker, der im Gegensatz zum freien Weltmarkt ein gewisses Maß an Preisstabilität und wirtschaftlicher Planungssicherheit garantierte. Die kubanische Regierung verlegte ihren Fokus in den 2000er-Jahren endgültig auf Bergbau und Tourismus und ein Großteil der Zuckermühlen musste schließen. Bei der Zuckerrohrernte 2018/2019 verfehlte man knapp das angestrebte Ziel von 2 Millionen Tonnen und ist weiterhin bemüht darin, die vorhandene Infrastruktur zu optimieren.

Fortsetzung von Simon zur Kultur und Politik kubanischen Zuckerkonsums mit abschließendem Vergleich zu Deutschland folgt.

Dies ist ein Artikel von Pablo. Weitere Artikel von ihm findest du hier.

4 Gedanken zu „Kubanische Kristalle“

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