Kapitalismus im Sozialismus: Herausforderungen und Perspektiven für Kubas Gewerkschaften

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Der Sektor der Privat- und Kooperativwirtschaft wächst seit der ökonomischen Teilöffnung Kubas. Viele Beschäftigte in nicht-staatlichen Betrieben finden sich nun in kapitalistischen Produktionsverhältnissen wieder – eine neue Erscheinung, mit der die postrevolutionäre kubanische Gesellschaft sich in diesem Ausmaß erstmalig konfrontiert sieht. Natürlich bringen diese Entwicklungen auch Notwendigkeiten mit sich, im Besonderen für die Gewerkschaften, die ihre bisherigen Funktionen anpassen müssen. Verfügt Kuba über die Instrumente, den kapitalistischen Tendenzen Einhalt zu gebieten? Eine Abwägung zwischen wirtschaftlichen Zwängen und Möglichkeiten zur Interessenvertretung Angestellter im Transit zum Sozialismus.

Kapitalistische Verhältnisse in Kuba

Wie bereits in Hannos und Maximilianos Artikeln zur Kooperativwirtschaft dargelegt, nimmt der Anteil privat Beschäftigter in Kuba zu. Nicht nur Soci@s,[1] deren demokratisches Mitbestimmungsrecht in Kooperativen gesetzlich verankert ist und Selbstständige (Cuentapropistas) sind dabei neu[2] in der kubanischen Arbeitswelt, sondern auch deren Angestellte, die ihre Arbeitskraft ohne direkte Partizipationsmöglichkeiten im Betrieb an eben diesen verkaufen. Besonders anhand der Diskrepanz zwischen den Löhnen Angestellter und den Gewinnen ihrer Arbeitgeber*innen in Kooperativen und Privatbetrieben wird deutlich, dass es sich hierbei um ein klassisches Ausbeutungsverhältnis im marxistischen Sinne handelt. Ein plakatives Beispiel hierfür ist die Schweinezucht-Kooperative „Porci Porrito“, in der sich Soci@s monatlich bis zu 4000 Pesos netto auszahlen und deren Angestellte 600 Pesos netto Lohn erhalten. Diese Diskrepanz kann nur dadurch zustande kommen, dass sich ein wesentlicher Teil des Mehrprodukts, das die Angestellten erwirtschaften, durch die Soci@s angeeignet wird. Es drängt sich also die Frage auf, welche Perspektiven Angestellte in Kuba heute haben und künftig haben könnten, um den Anteil des Mehrwerts, der ihnen durch ihre eigene Arbeit zusteht, zu maximieren. Mit dem Blick auf Deutschland, wo die beiden weltgrößten Gewerkschaften IG Metall und Ver.di für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen von Millionen von Beschäftigten kämpfen, könnte man meinen, die Antwort bereits gefunden zu haben. Vergessen werden darf jedoch nicht, dass Deutschland und Kuba hinsichtlich ihrer nationalen Ökonomie unterschiedlicher nicht sein könnten, was sich wiederum direkt auf die Aufgaben und Funktionen von Gewerkschaften auswirkt.

Gewerkschaften im kubanischen Sozialismus

Die Aufgabe der deutschen Gewerkschaften ist zum einen der Kampf gegen das kapitalistische System und zum anderen der Kampf innerhalb desselben. Letztere Funktion ergibt sich notwendigerweise aus dem Klassenantagonismus zwischen Kapital und Arbeit. Dieser existierte in Kuba hingegen, wo seit der Revolution der Sozialismus aufgebaut wird, bisher in nur kaum nennenswertem Ausmaß. Der größte Arbeitgeber ist auch heute noch der Staat, nach einem sozialistischen Verständnis also die Bevölkerung selbst. Das bedeutet, dass die staatlich Beschäftigten zwar durchaus lohnabhängig sind, der Anteil des Mehrprodukts, den sie erwirtschaften, jedoch nicht in Form von Profit in die Tasche weniger Kapitalisten*innen abgeführt wird, sondern in den Staatshaushalt, im Besonderen die Sozialsysteme, Forschung und Entwicklung zurückfließt. Kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung sowie stark subventionierte Kultur wird auf diese Weise der Gesamtbevölkerung zugänglich gemacht. Löhne werden dabei tätigkeitsspezifisch durch den Staat festgelegt, dessen Konstituierung im Rahmen der demokratischen Institutionen, also denen des Poder Popular erfolgt.

Die Aufgaben von Gewerkschaften leiten sich in Kuba also von vollkommen anderen Produktionsverhältnissen ab. Der damalige stellvertretende Premierminister und heutige Präsident Kubas, Raúl Castro, konkretisierte sie im Jahr 1963 wie folgt: „Gestern [vor der Revolution, Anm. d. Verf.] war es für die Gewerkschaften notwendig, unaufhörlich zu kämpfen, um gewisse Vorteile zu erringen, um ein klein wenig mehr der von den Magnaten gemachten Profite abzubekommen. Heute ist die große Aufgabe […] der Gewerkschaften, die Produktion zu erhöhen, freiwillige Arbeiter zu rekrutieren, die Arbeitsdisziplin zu verschärfen, für eine höhere Produktivität zu sorgen und die Qualität der Produkte zu erhöhen“ (zit. n. Hernández und Mesa-Lago 1971: 213). Diese Rhetorik muss vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass Kuba wirtschaftlich und ideologisch praktisch isoliert vom Rest der Welt dasteht. Wo in Deutschland durch konkurrierende Firmen eine massive Überproduktion von Konsumgütern stattfindet, hat Kuba etwa durch das US-amerikanische Handelsembargo  große Probleme, überhaupt grundlegende Güter der Bedürfnisbefriedigung für die Bevölkerung bereitzustellen, was sich etwa am hohen Anteil an Nahrungsmittelimporten erkennen lässt (vgl. Tittor: 30ff.). Gewerkschaften sind hier also als Funktionsträger einer Volkswirtschaft zu verstehen, der im planwirtschaftlichen Prinzip nicht gegen einen Klassenfeind, sondern im Dialog mit dem Staat darauf hinwirken soll, unter bestmöglichen Arbeitsbedingungen die bestmögliche Güterversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten.

Die Tücken der Privatwirtschaft

Während jedes staatliche Unternehmen an den nationalen Haushaltsplan geknüpft ist, sind private Betriebe von Cuentapropistas und Kooperativen hiervon ausgenommen. Auch die pauschale Partizipation der Gewerkschaften an betrieblichen Entscheidungen findet in ihnen genau dann ihr Ende, wenn die Belegschaft nicht oder nur zu einem geringen Anteil organisiert ist. Im Gespräch mit Marta,[3] einer Gewerkschaftsbeauftragten an der technischen Universität CUJAE in Havanna, erfahren Teilnehmende des Proyecto Tamara Bunke von den Herausforderungen, mit denen sich die kubanischen Gewerkschaften durch diese Situation konfrontiert sehen. Zwar seien durchaus auch Cuentapropistas, Soci@s und ihre Angestellten organisiert, dies ist jedoch längst nicht bei allen der Fall. Auch die CUJAE vergebe, wie viele öffentliche Einrichtungen, Dienstleistungsarbeiten an Kooperativen. Die hinge nicht zuletzt damit zusammen, dass etwa viele Reinigungskräfte aus ihrer ehemals staatlichen Beschäftigung in die Kooperativwirtschaft abgewandert seien, da sie dort mehr verdienen würden. Durch den häufig niedrigen oder gar gänzlich fehlenden Organisationsgrad der Angestellten in Kooperativen fehle damit eine Kontrollinstanz, die die Arbeitsbedingungen überprüft und gegebenenfalls juristisch einschreitet. Es sei sogar vorgekommen, dass Angestellte in Kooperativen ihre Lohnzahlungen nicht erhalten hätten, obwohl der Auftrag an die Kooperative bereits bezahlt worden sei. Marta weist darauf hin, dass die Angestellten nur dann ihre Rechte effektiv geltend machen könnten, wenn sie sich in Gewerkschaften organisierten. In diesem Fall könnten sie auf denselben Rückhalt des Staates vertrauen wie ihre Kolleg*innen in staatlichen Betrieben.

Die Perspektiven: Arbeitsrecht und Organizing

In Kuba ist die Central de Trabajadores de Cuba (CTC) der Dachverband der Gewerkschaften, dem 17 Mitgliedsgewerkschaften verschiedener Branchen angehören, so etwa die Gewerkschaft des Gesundheitswesens, welche Ärzte, Pflegepersonal und weitere Berufsgruppen in diesem Bereich organisiert, oder die Gewerkschaft des Bildungswesens. Die CTC ist also so etwas wie das kubanische Pendant zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), wobei sie eine stärker anleitende Funktion für ihre Mitgliedsgewerkschaften innehat. Da sie somit keine weitreichende Autonomie besitzen, könnte man sie eher mit den Fachbereichen bei Ver.di vergleichen (vgl. ND 2012).

Martas Hinweis auf die die staatliche Unterstützung und die Souveränität der Gewerkschaften lässt sich anhand der gesetzlichen Grundlagen zur Regelung der Funktionen von Gewerkschaften überprüfen. Tatsächlich räumt ihnen das Gesetz 116 sehr weitreichende Möglichkeiten zur Mitgestaltung der Arbeitsrealität ein. Grob zusammenfassen lassen sich vier Bereiche: Erstens die Mitbestimmung beim Management der Betriebe und darüber hinaus die Einflussnahme auf alle Gesetzgebungen, die die Beschäftigten betreffen sowie aktives Mitwirken an Formulierung, Durchführung und Kontrolle des Planes der ökonomischen und sozialen Entwicklung des Staates und sogar des Staatshaushalts (vgl. Art. 14 b, c, n). Den Gewerkschaften wird dadurch in Fragen der Erwerbsarbeit praktisch ein Expertenstatus zugesprochen. Zweitens nehmen Gewerkschaften unmittelbar am kontinuierlichen Verbesserungsprozess zur Steigerung der Effizienz teil, indem sie in die Erarbeitung von Lösungen technischer Probleme in der Produktion und bei Dienstleistungen sowie in arbeitsorganisatorische Fragen eingebunden werden (vgl. Art. 14 k, l). Drittens haben sie die  Aufgabe zur Bildung der Beschäftigten. Dies bezieht sich auf die Förderung ökonomischer und juristischer Bildung sowie technischer, beruflicher und kultureller Befähigung, etwa durch die Veranstaltung sportlicher, künstlerischer und kultureller Aktivitäten, was auch dazu dient, Effizienz, Qualität und Produktivität von Arbeit zu steigern (vgl. Art. 14 g, 15 b). Die vierte Funktion ist der Schutz der Beschäftigten, etwa in Form der Entwicklung von gesundheitsbezogenen Präventivprogrammen und ihre Repräsentation vor dem Arbeitgeber, also die Vertretung ihrer individuellen und kollektiven Interessen (vgl. Art. 15 a, d, vgl. Molina 2015).

Diese vier Funktionsbereiche befinden sich stets im Rahmen der Organisationsfreiheit der Beschäftigten in den Gewerkschaften sowie der Unterstützung durch den Staat (vgl. Art. 12, 13). Arbeitgeber*innen dürfen ihrerseits die Gewerkschaften und ihre Funktionär*innen in der Ausübung ihrer Arbeit jeweils nicht behindern (vgl. Art. 16), sondern müssen ihnen sämtliche Ressourcen zur Ausübung ihres Amtes zur Verfügung stellen (vgl. Art. 17) und sind ihnen außerdem in allen wirtschaftlichen Fragen zur Information verpflichtet (vgl. Art. 19).

Zumindest der gesetzliche Rahmen bietet also weitreichende Möglichkeit dazu, dass nicht nur Soci@s in Kooperativen, sondern auch ihre Angestellten und die Angestellten von Cuentapropistas eine geradezu wirtschaftsdemokratische Betriebsordnung realisieren könnten. Die Einflussnahme der Angestellten selbst ist allerdings immer auch an die Koordination in einer Gewerkschaft geknüpft, denn eben diese bündelt und vertritt vor allem in der Privat- und Kooperativwirtschaften die Interessen der Beschäftigten. Daher drängt sich unweigerlich die Frage nach einer Diskrepanz zwischen formalen Regelungen und der Praxis auf, die sich nach Gesprächen mit Marta und anderen kubanischen Arbeiter*innen als durchaus begründet erweist und auch Gewerkschaftsaktiven in Deutschland nur allzu bekannt sein sollte. Bestrebungen nach gewerkschaftlicher Organisation durch Angestellte gehen in privaten Betrieben und Kooperativen trotz gesetzlichen Kündigungsschutzes nämlich trivialerweise mit dem Risiko einher, die Anstellung zu verlieren bzw. durch andere Arbeiter*innen ersetzt zu werden. Durch den verhältnismäßig hohen materiellen Anreiz nicht-staatlicher Beschäftigung können sich Soci@s und Cuentapropistas tendenziell sicher sein, dass es ausreichend potenzielles Personal gibt, das bereit dazu ist, sich auch ohne Gewerkschaft im Betrieb dem Ausbeutungsverhältnis hinzugeben.

Fazit

Das grundlegende Problem der Gewerkschaften, das sich durch die Wirtschaftsaktualisierungen nun also eröffnet, ist die nachhinkende Entwicklung des Organizings der Beschäftigten gegenüber dem verhältnismäßig rasanten Anwachsen kapitalistischer Arbeitsverhältnisse. Bedeutet dies jedoch, dass Kuba einer kapitalistischen Tendenz nun hilflos ausgeliefert ist? Diese Annahme wäre wohl pessimistisch.  Der Inselstaat, dessen wissenschaftliche Grundlage der Wirtschaft auch weiterhin der Marxismus bleibt, schlägt einen Weg ein, der nicht unkoordiniert gegangen wird, sondern auf aktuelle Notwendigkeiten reagiert.[4] Den neuen Herausforderungen ist man sich offenbar durchaus bewusst, was anhand der Position der Kommunistischen Partei Kubas (PCC), nachzulesen im Zentralorgan „Granma“, deutlich wird. Auf dem letzten Parteitag herrschte unter der Berufung auf das Gesetz 116 Einigkeit hinsichtlich der Notwendigkeit, „dass die Aktivitäten, die auf die Stärkung der Führung der Gewerkschaftsbewegung gerichtet sind, angesichts der Umwandlungen und ihren Auswirkungen auf die Arbeitswelt weiterhin Priorität haben […]“ (Mena 2016). Nicht vergessen werden darf also, dass die privaten und kooperativen Formen der Beschäftigung sich erst im Anfangsstadium ihrer derzeitigen Entwicklung befinden und nicht unbeobachtet sind. Auch Kuba wird Zeit brauchen, sich auf die neuen Umstände in der Arbeitswelt einzustellen. Wie gezeigt, gibt es die gesetzlichen Grundlagen, der Lage Herr zu werden, bereits. Nun liegt es zum einen an den Gewerkschaften und an den Beschäftigten, sie auszuschöpfen und zum anderen in der Hand des Staates, die Gewerkschaften auch politisch weiterhin zu unterstützen und zu fördern.

Quellen:

  • Hernández, R. E. und Mesa-Lago, C. (1971). Labor Organization and Wages. In: Mesa-Lago, C. (Hrsg.) (1971). Revolutionary Change in Cuba. University of Pittsburgh Press.
  • Mena, O. E. (2016). Staatliches Sozialistisches Unternehmen und die Arbeit der Gewerkschaften. 04.07.2016, URL: http://de.granma.cu/cuba/2016-07-04/staatliches-sozialistisches-unternehmen-und-die-arbeit-der-gewerkschaften, letzter Zugriff 26.01.2017
  • Ministerio de Justicia (2014). GACETA OFICIAL DE LA REPUBLICA DE CUBA. No. 29 Extraordinaria de 17 de junio de 2014. ISSN 1682-7511
  • Molina, V. B. (2015). Das Gesetz 116 und das Thema Überstunden. 15.02.2015, URL: http://www.fgbrdkuba.de/ck/ck2015-02-s1-ueberstunden.php, letzter Zugriff 26.01.2017
  • Neues Deutschland (2012). „Wir importieren sogar Tomatensoße“. Ein Gespräch über die Rolle von Gewerkschaften in Kuba, private Geschäfte und Werbung für die Landarbeit. 13.04.2012, URL: http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Kuba/gew.html, letzter Zugriff 26.01.2017
  • Tittor, A. (2015). Zur Situation der schwarzen Bevölkerung in Kubas Landwirtschaft. In: Informationsbüro Nicaragua e.V. (Hrsg.) (2015). Rum oder Gemüse? Landwirtschaft in Kuba und Nicaragua zwischen Ernährungssouveränität, Kooperativen und Weltmarkt. Originalausgabe, Nahua script 16, Wuppertal.

[1] Socios (männlich) + Socias (weiblich) = Soci@s, span.: Mitglied/Partner*in, in Kuba auch: Freund*in

[2] Hierzu muss bemerkt werden, dass Kooperativen und Cuentapropistas zwar auch vor den Wirtschaftsreformen schon existierten. Durch fehlende staatliche Förderung und geringe Vergaben von Lizenzen spielten diese in der kubanischen Gesamtwirtschaft bis 2011 jedoch lediglich eine marginale Rolle.

[3] Name geändert

[4] Einen tieferen Einblick in Kubas Vergangenheit und Perspektiven liefert Lorenz‘ Wirtschaftsanalyse

Dieser Artikel ist von Maximiliano. Hier geht es zu weiteren Artikeln von ihm.

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