Vor mir eröffnet sich das Panorama der Stadt, in der ich nun schon mehrere Monate lebe und die ich mit all ihren Eigenheiten bereits lieb gewonnen habe. In meinem Rücken befindet sich eine etwa 20 Meter hohe Statue, die stark an den „Christo Redentor“ Rio de Janeiros erinnert und durch ihre erhöhte Position östlich der Hafeneinfahrt den Besucher_innen einen genialen Blick über die Altstadt gewährt. Doch nicht nur die Sicht, sondern auch die Luft lässt mich an diesem Ort verweilen. Während mir der Wind eine willkommene Erfrischung zu den sommerlichen Temperaturen des kubanischen Winters bereitet und ein leichter Geruch von Meersalz in meine Nase steigt, vergesse ich für kurze Zeit die unangenehmen Seiten meines Aufenthaltes in dieser so einzigartigen Stadt.
In Gedanken schweift mein Blick langsam gen Himmel, der heute in einem wolkenfreien blau erstrahlt – eher ein seltener Anblick im feucht-tropischen Kuba. Während ich schon darüber nachdenke, wie sich die schöne Aussicht fotografisch am besten in Szene setzen ließe, fällt mir etwas ins Auge, das ich vorher nur aus nächster Nähe wahrgenommen habe.
Über den Dächern Havannas hängt ein feiner, grauer Nebel, der nur sichtbar ist, weil sich keine Wolken am Himmel befinden. Es wirkt so, als hielte eine Glocke die durch Abgase verdreckte Luft unmittelbar über der Stadt. Hier, am Fuße des „Christus von Havanna“, wird das Ausmaß der Luftverschmutzung besonders deutlich. Neben dem PKW-Verkehr, der von als Taxi fungierenden amerikanischen Oldtimern sowie anderen historisch anmutenden Fahrzeugen dominiert wird, trägt auch ein Großteil des öffentlichen Personennahverkehrs dazu bei, dass das Atmen an stark frequentierten Straßen der Metropole zum Gesundheitsrisiko wird.
Ein weiteres Problem, das sich scheinbar nicht wirklich in den Griff kriegen lässt, ist die Müllentsorgung. Es beginnt damit, dass man auf der Suche nach einem Mülleimer vergeblich mehrere Kreuzungen passiert. Entweder taucht dann eine der großen Tonnen auf, die für den gesamten Abfall der anliegenden Wohnungen zugeteilt ist, oder einen verlässt die Geduld und der Pizzakarton landet schließlich dort, wo auch schon viele weitere ihren Platz gefunden haben: am Straßenrand. So verwerflich man dieses Verhalten in Deutschland auch finden mag, so normal wirkt die beschriebene Handlung hier in Kuba.
Zieht man daraufhin den Vergleich zu den europäischen Standards von Sauberkeit im öffentlichen Raum, käme man wohl kaum zu dem Schluss, dass die kubanische Bevölkerung ein ausgeprägtes Bewusstsein für ihre Umwelt hat. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass auf der karibischen Insel eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der Wichtigkeit nachhaltiger Entwicklung und dem gesteigerten Interesse an der Erhaltung der Natur vorherrscht, während bei uns in Europa vehement für den Klimaschutz eingestanden wird.
Doch was ist dran an der oberflächlichen Beobachtung, dieser Wahrnehmung, die sicherlich vielen nach einem kurzen Aufenthalt in Havanna aber auch in einer der Provinzen im Gedächtnis bleibt?
Um Kubas Situation in Bezug auf das Thema Nachhaltigkeit verstehen zu können, ist ein Blick auf die Geschichte der Nation unabdinglich. Mit dem „Triunfo de la Revolución“ erkalteten 1959 die Beziehungen zwischen Kuba und den USA, die bis dato Kapital unter anderem in Form von Autos, moderner Technik und Tourismus ins Land gebracht hatten. Das daraufhin durch die US-Regierung verhängte Handelsembargo setzt der kubanischen Wirtschaft bis heute zu, sodass technische Investitionen in die Wirtschaftssektoren Landwirtschaft und Industrie weitestgehend ausblieben.
Die unter sozialen Gesichtspunkten zwar als große Errungenschaft gesehene Revolution stand von Beginn an unter dem Zeichen einer von anderen Staaten abhängigen, wirtschaftlichen Notlage. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre fiel innerhalb kürzester Zeit der wichtigste Handelspartner Kubas weg, sodass neben dem Import moderner Technologien auch die Treibstofflieferung radikal gekürzt wurde. Eben diese prekäre Situation trug jedoch dazu bei, dass die Landwirtschaft auf traditionelle und damit nachhaltigere Anbaumethoden zurückgreifen musste, da die Mittel zur Weiterentwicklung nicht mehr vorhanden waren. Dasselbe Phänomen lässt sich im Industriesektor beobachten, da auch hier die Modernisierung zwangs fehlender Mittel ausblieb.
Kubas Infrastruktur ist in Bezug auf die Frage des Umweltschutzes ein zweischneidiges Schwert. Zum einen basiert das Transportsystem auf (Motoren-)Technik aus dem letzten Jahrhundert, die Energieversorgung wird zum Großteil durch Dieselgeneratoren gesichert und Müllverbrennung ist eine gängige Methode in der Abfallverwertung. Zum anderen leitet sich aus dem materiellen Mangel ein geringerer Verbrauch von Ressourcen ab, sodass ein umweltverträglicheres Leben jedes Einzelnen möglich ist. Betrachtet man beispielsweise den Anteil an PKW pro 1000 Einwohner, so ergibt sich nach Internetrecherche für das Land Kuba eine Zahl von 27. In Deutschland besitzt statistisch mehr als jeder zweite ein Auto (ca. 573 PKW auf 1000 Einwohner). Auch beim Vergleich des Energie- und Erdölverbrauchs pro Kopf kann Kuba mit einer nachhaltigeren Bilanz punkten (Kuba: 1180 KW/h pro Kopf und Jahr, 6,72 Barrel Erdöl pro Kopf und Jahr; Deutschland: 6200 KW/h, 11,89 Barrel).
Nicht nur das gering ausgeprägte Konsumverhalten, sei es nun dem sozialistischen System, der US-Blockade oder der kubanischen Wirtschaft geschuldet, führte aktuell zur Auszeichnung Kubas als das Land mit der nachhaltigsten Entwicklung, gemessen am „Sustainable Development Index“ (SDI). Gezielte Programme zur Erhaltung der Umwelt, initiiert durch die kubanische Regierung, zeigen seit vielen Jahren ihre Wirkung. So veranlasste das sozialistische Regime unter Fidel Castro beispielsweise eine Wiederaufforstung ehemaliger Zuckerrohrplantagen und anderer agrokulturell genutzter Flächen, sodass seit den 1960er-Jahren fast eine Verdreifachung der Waldfläche erreicht werden konnte. Zudem entstanden in dieser Zeit etliche der 73 Naturreservate, die heute zu denen mit der höchsten Biodiversität weltweit gehören. 20% der kubanischen Landfläche sind heute ökologisch geschützt. Neben den nationalen dienen zunehmend auch Solarparks dem Klimaschutz. Bis 2030 sollen laut Regierung insgesamt 25% des Energiebedarfs durch erneuerbare Energien gedeckt werden, bisher liegt der Anteil bei 4%.
Doch nicht nur aus der Makroperspektive, sondern auch im Alltag findet man Anzeichen dafür, dass das Thema Umweltschutz in der Gesellschaft thematisiert wird. So können wir zum Beispiel regelmäßig Studentengruppen beobachten, die mit Greifzange und Eimer bewaffnet über den Campus der CUJAE laufen und den Boden vom weggeworfenen Müll befreien. Wer in Havanna unterwegs ist, erkennt an der Geräuschkulisse schnell den Unterschied zwischen einem dieselbetriebenen und einem neuen, mit Hybridtechnik ausgestatteten Bus. Seit Mitte 2019 sind 40 dieser chinesischen Produkte auf den Straßen der Hauptstadt im Einsatz, während weitere 40 für nächstes Jahr in der Planung sind. Ein weiteres Bestreben zur Verbesserung der Verkehrssituation in der Hauptstadt ist der sogenannte „Bicicletear“, eine monatlich stattfindende „Critical Mass“, die das Fahrrad als umweltfreundliche Transportalternative in den Fokus rücken soll.
Wie ich persönlich nun schon häufiger feststellen konnte, stößt man im Zusammenhang mit Kuba auch beim Thema Nachhaltigkeit immer wieder auf Widersprüche, die sich nur schwer begreifen lassen. Die Tatsache, dass dem Land die Mittel fehlen, um aus europäischer Sicht umwelttechnisch wichtige Investitionen in unterentwickelte Bereiche der Infrastruktur zu tätigen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Karibikstaat bereits wichtige Schritte im Bereich des Umweltschutzes getan hat. Während in vielen der weit entwickelten Staaten eine massive Klimabewegung für eine radikalere Umweltpolitik kämpft, stehen in der kubanischen Bevölkerung existenziellere Probleme im Vordergrund. Und dennoch schafft Kuba es, einen großen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten. Auch wenn das Bewusstsein für nachhaltiges Handeln mit Sicherheit auch in den nächsten Jahren nicht zum primären Thema in der kubanischen Gesellschaft wird, so leben sie trotzdem in einem weniger die Natur ausbeutenden Umfeld als wir es tun. Anstatt mit dem Finger auf andere zu zeigen, würde sowohl der immer hitziger werdenden Debatte, die gerade in Europa über die Wichtigkeit des Umweltschutzes geführt wird, als letztendlich auch dem Zustand unseres Planeten ein selbstkritisches Überdenken der eigenen Lebensstandards sicher gut tun. Ich kann mich da natürlich nicht ausschließen…
Lieber Simon, vielen Dank für Deine Beobachtungen und Gedanken zu Umweltverschmutzung, Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Du hast Dir die Mühe gemacht, um ein umfassendes Bild zu zeichnen und nicht nur bei der überquellenden Mülltonne stehenzubleiben. Da hast Du recht und es müssen viele Faktoren zu einem objektiven Bild zusammenkommen. Trotzdem kritisiere ich sehr, dass nicht konsequent mehr in allen Barrios für den Abfallentsorgung – oder eben für Abfallverhinderung – getan wird. Ich rede vor allem für Habana. Da sieht es ja manchmal richtig schlimm aus. Jede/Jeder schmeisst alles einfach weg, es ist manchmal kaum auszuhalten! Oder geh mal nach Las Terrazas, in den Rio San Juan: Horror! In Holguin und anderen Orten scheint es dieses Problem viel weniger zu geben! Das ist interessant. Man muss also keine europäischen Städte zu einem Vergleich heranziehen. Wieso ist für Habana nicht das Gleiche möglich wie für Holguin? Eine Ursache des Problems liegt darin, dass die Lösung von Problemen dem Staat – oder der Stadtregierung – zugeteilt wird. Du suchst eine Mülltonne, damit Du den Abfall entsorgen kannst. Wenn es keine hat – ist die Regierung schuld und Dein Abfall landet halt auf der Strasse. Die Regierung ist also schuld? Den Abfall verursachst jedoch Du, und deshalb ist auch jede/jeder selbst für die Entsorgung zuständig – anwesende oder abwesende Mülltonne hin oder her. Eine Ursache dieses Nichtbewusstseins liegt also darin, dass jede/jeder Einzelne einfach auf den Staat schaut, als selbst zu handeln. In Japan, zum Beispiel, gibt es auch praktisch keine – oder nur wenige – öffentlichen Mülltonnen. Trotzdem sieht man keinen Abfall rumliegen. Weil die Entsorgung in der Verantwortung des Einzelnen /der Einzelnen liegt. (Ein anderes Problem dort ist jedoch die riesige Verpackungsindustrie – da ist kein Gedanke an Nachhaltigkeit…)
So haben wir im Barrio begonnen, das bei den CDR und bei Einzelnen im Barrio zu thematisieren. Von daher müsste mehr Initiative zur Eigenverantwortung kommen. Und natürlich in der Schule, in der Erziehung. Bei den Menschen im Barrio kommt das gut an, ist aber noch ein langer Weg. Der tägliche Überlebenskampf kann ja nicht in den Gegensatz zur Abfallverhinderung gestellt werden, zum Überleben gehört auch das Bewusstsein zur Umweltgerechtigkeit.
Ein weiteres gutes Beispeil kommt von Cubavelo. Das ist ein kleine Gruppe von Menschen, die mit einigen Talleres fürs Fahrrad begonnen haben. Nun sind sie gewachsen und vermieten Velos an CubanerInnen um den Umstieg aufs Velo zu forcieren. Dazu haben sie auch einige Velo-Parkplätze geschaffen, wo das Fahrrad abgestellt werden kann. Ein sehr guter Ansatz, steckt aber noch in den Kinderschuhen (und Schubladen der Bürokratie…..) und kann/muss stark ausgebaut werden.
Toller Bericht.
Ich sehe Kuba jetzt nicht als Öko-Vorbild. Wir/ich sollten uns aber überlegen, ob alles konsumiert werden muss….
Stillstand muss nicht Rückschritt sein!
Den Schlusssatz kann man nur unterstreichen: Man denke nur an den langen Flug – schlecht für den ökologischen Fußbdruck…