– und kann sich von seinem Gehalt am Wochenende noch nicht mal ein paar Dosen Bier kaufen-
Ich stehe mit den drei Ärzten, Junior aus Cuba, Jakob aus El Salvador und Paola aus Kolumbien in einer der unzähligen Warteschlangen dieses Landes und führe eine spannende Unterhaltung. Zum Warten in einer Schlange wird hier übrigens „hacer cola“ gesagt. Das heißt so viel wie „Schlange machen“ und hat nichts mit Coca Cola zu tun. Überall wo man hier eine Schlange sieht, gibt es etwas Begehrtes. Z.B. wenn das Hühnchen, welches man mit der Libreta (Lebensmittelkarte) erhält, im Laden an der Ecke angekommen ist oder, wenn man wie in unserem Fall vor einem Telekommunikationsladen wartet. Man kommt in der „cola“ oft schnell ins Gespräch – mit verschiedensten Leuten – so wie auch jetzt mit dem Kinderchirurg Junior, den ich eben erst kennen gelernt habe. Er meint, dass es nicht leicht sei. Sie bekämen alle Notfälle, was verunglückte Kinder aus dem Umkreis von Havanna angeht. Das Schlimmste seien die Familienangehörigen, die oft schon eine Prognose wissen wollen, bevor er sie geben könne. Und dann der zusätzliche Druck, den sie durch alle ihre Fragen aufbauen, vor und nach der Operation. Er sagt:
„Oft kommt die ganze Familie mit Tanten und Onkels. Ich mag meinen Beruf sehr gerne, aber man steht unter einem enormen Druck. Bei Kindern sind einfach alle Strukturen viel kleiner, zum Beispiel die des Halses. Es ist schon bei Erwachsenen schwer genug da zu operieren. Und jetzt stell Dir das bei einem Kleinkind vor und dass es um Leben und Tod geht.“
Ich bin beeindruckt, mit welcher Ruhe und Bescheidenheit mir Junior diese Dinge erläutert. Ich selbst wollte auch lange Zeit Arzt werden. Die große Verantwortung, die man dabei übernimmt ist eine Bürde, die mich selbst unter Anderem wohl davon abgehalten hat. Junior fährt fort: „Und dann ist es so, dass ich am Wochenende mit meinem Gehalt auch nicht in ein Restaurant gehen kann und ein paar Bier trinken kann – um einfach mal abzuschalten.“ Ich frage ihn ob er schon daran gedacht hat auf Mission zu gehen, für Cuba in einem anderen Land zu arbeiten und dabei mehr Geld als innerhalb Cubas zu verdienen. „Nein, das kommt erst mal nicht in Frage. Ich muss noch viel lernen und die Praxis ist sehr wichtig. Ich weiß wo ich gebraucht werde und mich entwickeln kann – und das ist hier in Cuba.“ Ich freue mich so einen hingebungsvollen Compañero kennen zu lernen und sage ihm, dass es Leute wie er sind, die die Lebensqualität hier aufrecht erhalten. Einige meiner Freunde und Bekannte arbeiten als Ärzte, Professoren oder Ingenieure und es ist mit ihrem geringem staatlichen Gehalt und der fehlenden Verfügbarkeit von einigen Produkten nicht immer leicht für sie, den Alltag mit all seinen kleinen „necesidades“ (Notwendigkeiten) zu meistern. Mit necesidades meint man die materiellen Dinge, die z.B. in Devisen bezahlt werden, wie z.B. Waschmittel oder gewisse Lebensmittel.* Die Menschen in Cuba konnten vor dem Zusammenbruch des Ostblocks und der darauf folgenden Periodo Especial*2 viel mehr Lebensmittel und auch mehr Konsumartikel wie Rum über die Libreta bekommen. Es kann sich also derzeit für ausgebildete Ärzte oder Ingenieure mehr auszahlen Pizza zu backen oder Taxi zu fahren. Hier spielen auch die 2008 beschlossenen Wirtschaftsaktualisierungen eine Rolle. Diese bergen die Gefahr, dass Einkommen innerhalb Cubas stark variieren können, werden aber in dieser Phase des Sozialismus laut Regierung als notwendige Maßnahme gesehen, um die Produktivität zu steigern und so die Gehälter aller auf Perspektive anheben zu können.
*Sophie arbeitet gerade an einen Artikel zur Libreta, in dem sie erklärt, was die Libreta ist, welche Produkte in ihr enthalten sind und welche eher schwierig zu bekommen sind.
*2 Paula arbeitet gerade an einem Artikel zur Spezialperiode.
Ausbildung, Gesundheit und Sicherheit auf der Straße als Prioritäten
Meiner Meinung nach wird in Kuba vorrangig das produziert, was nach humanistischen Kriterien notwendig ist. Cuba hat nicht die materiellen Möglichkeiten seiner Bevölkerung all die Konsummöglichkeiten zu bieten, die sich die Menschen wünschen. Aber da die maßgeblichen Produktionsstätten in staatlicher Hand sind, kann es im Gegensatz zu vielen anderen Ländern in Lateinamerika grundlegende humanistische Prinzipien verwirklichen. Die Ärztin Paola aus Kolumbien, die neben uns sitzt, scheint das Ganze nicht so zu interessieren. Sie meint sie nerve einfach, dass sie hier in den Läden keine große Auswahl habe. In ihrer Heimatstadt in Kolumbien gäbe es unter anderem viel mehr Sorten von Fisch und Früchten auf den Märkten. Und hier müsse sie sich oft mit Hühnchen und Schweinefleisch zufrieden geben. Außerdem habe sie kein fließend-heißes Wasser in ihrer Wohnung. Sie meint sie würde lieber zu Hause sein. Es stellt sich heraus, dass sie in Kolumbien ihren Facharzt auf Grund Platz- und Geldmangel nicht machen konnte und deshalb hier in Cuba ist. Ich entgegne ihr, dass man doch genau an ihrem Beispiel erkennen könne, dass in Cuba eben andere Prioritäten gesetzte werden, als in vielen anderen Ländern. Ich muss auch an den Studienplatz- und Ärztemangel in Deutschland denken. Und Paola muss eben bescheidener leben, um das Ziel ihrer Ausbildung zu erreichen, was in ihrem Heimatland für sie nicht möglich gewesen wäre. Jakob aus El Salvador schaltet sich in die Diskussion ein. Er macht hier seinen Facharzt in innerer Medizin. Er meint es stimme schon – dass es was Einkäufe und Geld verdienen angehe hier sehr schwer sei. Aber fügt hinzu hinzu, dass z.B. hier an der 23. Straße (Calle 23, la Rampa wo wir uns gerade befinden) nachts Jugendliche unterwegs sind,-dass so etwas in seinem Land auf Grund der hohen Kriminalitätsrate nicht möglich wäre. „Da traue nicht mal ich mich, als erwachsener Mann, in El Salvador spät abends alleine in der Hauptstadt zu Fuß unterwegs zu sein. Paola, Du weißt doch auch was man bei uns in den Krankenhäusern so oft zu sehen bekommt. Schuss- und Schnittwunden!“
Unbestritten: Die Sicherheit auf den Straßen in Cuba ist eine Lebensqualität die in Lateinamerika geradezu einmalig ist. Und man muss bedenken, dass die Sicherheit hier in Cuba nicht von ungefähr kommt. Sie muss auch gesellschaftlich „produziert“ werden. Sie hat gesellschaftlich-soziale Ursachen und aber auch eine starke Polizei zur Grundlage, die nicht korrupt ist, wie in vielen anderen Ländern Lateinamerikas, wie z.B. die aktuellen katastrophalen Zustände in Mexiko zeigen.
Ich selbst will auch noch eine Lanze für die politische Ökonomie und die Prioritäten Cubas brechen: Cuba wäre ohne die Revolution höchstwahrscheinlich ein unterentwickeltes Land des Südens mit einer reichen elitären Schicht, die den Hauptteil gesellschaftlichen Reichtums und der Möglichkeiten unter sich aufteilen würde, so wie es fast überall in der Welt der Fall ist. Ich persönlich habe eine Zeit lang in einer kleinen Stadt in den Bergen Ghanas gelebt und gearbeitet. Dort habe ich gerne Fußball gespielt. Eines Tages erfuhr ich, dass ein Junge auf unserem steinigen Platz so schlimm gestürzt war, dass er eine Operation in der Hauptstadt gebraucht hätte. Er war zu dem Zeitpunkt schon verstorben. Der Transport und die OP hätten ca. 500 Euro gekostet, was die Familie nicht hatte aufbringen können. Das hat mich damals sehr bewegt und zum Nachdenken gebracht über die Möglichkeiten und den Zugriff auf elementare Dinge, der weltweit betrachtet nicht selbstverständlich ist.
„Die Veränderungen auf Cuba sind für mehr Sozialismus“ Raúl Castro
Deshalb und aus anderen Gründen wünsche ich mir, dass auch andere Länder das erreichen können was Cuba erreicht hat. Zunächst sollte die Produktivitätssteigerung auf Cuba dazu dienen, die Bereiche der unmittelbaren Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Dennoch sollte es dabei nicht anhalten, sondern ich wünsche mir, dass die Produktivität hier so sehr steigt, dass die Leute einen leichteren und schöneren Alltag haben können. Sei es mit fließendem Heiß-Wasser, mehr Bier*3, Fisch, Früchten oder was auch immer sie sich wünschen.
*3 Anmerkung des Autors: Auf Grund der Traditionen ist Rum auf den Straßen Cubas weitaus günstiger zu haben, als Bier.
Dies war der erste Artikel von Karl, bald geht es hier zu mehr Artikeln von ihm.
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Habe die Artikel auf mein Blog publiziert, mache „Werbung“ für euch. Mein Blog ist http://huestesutopicas.blogspot.de/.
mfG,
José