Yo sí puedo – Ja, ich kann (Teil 2: Einfluss der Alphabetisierungkampagne auf das Herausbilden der revolutionären und solidarischen Identität einer Generation)

Damit die 105664 jungen Menschen, von denen im ersten Teil berichtet wurde, an der Alphabetisierungskampagne teilnehmen konnten, wurden die Schulferien von April 1961 bis Januar 1962 auf den ganzen Zeitraum dieser Kampagne ausgedehnt. Weiterhin erforderte es jedoch das Einverständnis der Eltern. Diese hatten häufig Sorgen, dass ihre Kinder den Widrigkeiten des Landlebens nicht gewachsen sind, ihre Mission abbrechen, verfrüht wieder nach Hause kehren und somit dem Ansehen der Familie schaden.

Alphabetisierung nicht ohne Hindernisse – Widerstand der Jungen

Conrado Benítez_sw_klein_mit Schrift

Neben der US-unterstützten Invasion durch exilcubanische Kräfte im April 1961 in der Schweinebucht, wodurch viele Eltern sehr besorgt um ihre Kinder wurden und diese zurückholen wollten, kam noch eine weitere Sorge: So kurz nach dem Sieg der Revolution gab es im ganzen Land einige konterrevolutionäre Banden, die meist aus ehemalig Privilegierten bestanden, und die Revolution zum Fall bringen wollten. Ein erfolgreiches Durchführen der geplanten Alphabetisierungskampagne würde zur Stabilisierung der Revolution führen und so versuchten sie, diese Kampagne gewaltsam zu sabotieren. Am 5.1. 1961, fünf Tage nach Beginn der Kampagne, wurde der 18-jährige Conrado Benítez García als erster Lehrender von insgesamt 10 Lehrenden und 6 Lernenden von konterrevolutionären Gruppen grausam ermordet. Viele Eltern waren besorgt und wollten dass ihre Kinder wieder nach Hause kommen.
Doch diese jungen Menschen, die sich entschieden, alle Widrigkeiten auf sich zu nehmen und in dieses Abenteuer zu starten, ließen sich nicht davon abhalten. Sie kämpften dafür, dass sie ihre Mission, die zwischen 3 und 10 Monaten dauerte, durchführen durften. Sie waren von der Sinnhaftigkeit ihrer Aufgabe überzeugt. Sie blieben und lehrten weiter in der Kampagne, die von nun an „Campaña Conrado Benítez“ genannt wurde. Als Zeichen der Identifikation mit ihrer Aufgabe und der cubanischen Revolution, ließen sich viele Jungen in dieser Zeit ihre Haare und Bärte wachsen.

Diese Generation hatte eine Aufgabe bekommen, die sie erfolgreich durchführten und die für viele eine Art revolutionäre Taufe war. Am 22.12.1961 war die Kampagne beendet, mehr als 707000 Menschen lernten innerhalb dieses Jahres Lesen und Schreiben, die Analphabet*innenrate reduzierte sich auf 3,9%. Zusätzlich gab es von nun an ein kostenloses Bildungssystem (siehe „Bildungssysteme im Vergleich: Cuba, Finnland, Deutschland“), Schulen wurden systematisch ausgebaut. Die jungen Brigadist*innen zogen mit symbolischen großen Bleistiften in der Hauptstadt aus allen Regionen des Landes ein, Eltern weinten Freudentränen, ihre gereiften Kinder wieder zusehen, während diese sangen:

Somos las Brigadas Conrado Benítez
Somos la vanguardia de la Revolución
con el libro en alto cumplimos una meta
Llevar a toda Cuba la alfabetización
Por llanos y montañas el Brigadista va
Cumpliendo con la patria, luchando por la Paz
!Abjo Imperialismo! !Arriba Libertad!
Lllevamos con las letras la luz de verdad
!Cuba, Cuba!
Estudio, trabajo, fusil
Lápiz, cartilla, manual
Alfabetizar, alfabetizar
¡VENCEREMOS!
(Eduardo Saborit)

Wir sind die Brigade Conrado Benítez
Wir sind die Avantgarde der Revolution
Mit dem Buch nach oben haltend erfüllen wir ein Ziel
Die Alphabetisierung nach ganz Cuba zu bringen
Die Brigadist*innen gehen in Täler und auf Berge
Pflichtbewusst gegenüber dem Vaterland, kämpfend für den Frieden
Nieder mit dem Imperialismus! Nach oben mit der Freiheit!
Mit den Buchstaben bringen wir das Licht der Freiheit
Cuba, Cuba!
Studium, Arbeit, Gewehr
Bleistift, Handbuch, Nachschlagewerk
Alphabetisieren, Alphabetisieren
Wir werden siegen!

Aufforderunng_Fidel

Sie feierten ihren Sieg, der nicht nur der Sieg der Alphabetisierung, sondern auch der Sieg der Revolution gegenüber des Imperialismus bedeutete. Diese jungen Menschen entwickelten sich in den wenigen Monaten nicht nur zu reifen jungen Erwachsenen, die viele Geschichten erzählen können, sondern es reiften auch humanistische und revolutionäre Werte in ihnen heran. Sie glaubten nicht nur, dass es möglich sei Cuba zu verändern, sondern die ganze Welt.
Sie erhoben Transparente mit der Aufforderung: „¡Fidel, dínos que otra cosa debemos hacer!“ (Fidel, sage uns, was jetzt zu tun ist!)

Alphabetisierung heute

Heute ist die Analphabet*innenrate Cubas bei 0,2%, in Deutschland betrug sie 2011 nach einer Studie der Universität Hamburg ca. 4% (2 Millionen Erwachsene) mit 14% (7,5 Millionen Erwachsene) funktionalen Analphabet*innen1.
Aber die Alphabetisierungskampagne ist noch lange nicht beendet. Solidarität als wichtiges Prinzip des Sozialismus wird auch in diesem Bereich ausgeübt (siehe auch „Solidarität wird mit Tagen geschrieben“, „Solidarität ohne Grenzen“). So wurde die Kampagne im Anschluss in viele weitere Länder getragen, cubanische Pädagogikstudierende lernten z.B. Portugiesisch, um 1977 in ihrem 2. Studienjahr nach Angola zu gehen und dort Lesen und Schreiben zu lehren. Insgesamt arbeiteten cubanische Brigadist*innen in 30 Ländern, darunter auch Nicaragua, Venezuela, Argentinien, Ecuador, Mozambique, México… Aber auch in Ländern wie Neuseeland, Australien und Kanada finden sich cubanische Alphabetisierer*innen: Diese Staaten wollen eine Alphabetisierungskampagne nach cubanischem Vorbild durchführen, Cubaner*innen bilden Fachkräfte vor Ort aus und erstellen Lehrmaterial mit dem Motto „Yo sí puedo“ (Ja, ich kann).

Alphabetisierer*innen heute

Die Dokumentation zur Alphabetisierungskampagne am 22.12. hat mich sehr beeindruckt. Ich habe das Gefühl, die cubanische Gesellschaft und Realität wieder ein bisschen besser zu verstehen. Ich kann jetzt besser nachvollziehen, was diese Menschen, die zur Zeit des Siegs der Revolution jung waren und heute den älteren Teil der cubanischen Gesellschaft präsentieren, zu dieser Zeit erlebten, was sie beeinflusste und prägte.
Ich bin sehr dankbar für die Kinoeinladung und dass ich somit auch am Tag des Lehrenden teilnehmen konnte. Im Anschluss an den Film fand eine Diskussion statt, Menschen die mochten, konnten ihre eigenen Erfahrungen teilen. Einige ältere Damen gingen auf die Bühne, um ihre besonderen Erlebnisse während dieser ereignisreichen Zeit zu schildern. Schließlich stand ein Mann auf und fragte, wer denn alles in diesem Kinosaal an der Alphabetisierungskampagne beteiligt war. Daraufhin erhoben sich etwa 80% der Anwesenden. Und als sie anschließend anfingen, die Alphabetisierungshymne (siehe oben) gemeinsam zu singen, konnte ich eine Tränen nicht zurück halten.
Ich bin gerührt von diesen Menschen, die sich in jungen Jahren für eine Sache eingesetzt haben und heute noch zu dieser Sache stehen, sich an alles erinnern, als wäre es gestern und sagen, dass sie in ihrem Leben nie wieder etwas so Beeindruckendes erlebt haben. Und vor allem bin ich beeindruckt von dieser Solidarität, die diese Menschen leisteten und die immer noch im Raum spürbar war, als diese mit strahlenden Augen sangen und sich an die Zeit der Alphabetisierungskampagne zurück erinnerten.

Als ich nach dem Kinobesuch am Abend zu Hause ankam, traf ich meine Nachbarin. Ich erzählte ihr vom Film, von meinen Erlebnissen. Da fragte sie mich, ob ich weiß, dass ihre Mutter, Luisa, auch Alphabetisiererin war. Diese kam, zerrte mich in ihr Wohnzimmer und fing an, alte Bilder rauszukramen und zu erzählen. Erneut sah ich dieses Funkeln in den Augen, diesen Stolz, dieses Gemeinschaftsgefühl, das mir häufig in meiner Welt fehlt.
Gleichzeitig kamen die beiden Kinder zu mir und berichteten mir, wie sie ihren Tag des Lehrenden verbracht hatten, dass die Vorführung in der Schule gut lief nur der Kleine von beiden, der noch im Kindergarten ist, vor lauter Aufregung leider den Text des ersten Liedes vergessen hatte.

Ich bin dankbar für diese Begegnungen und die Solidarität, die ich hier beobachten darf.

Quellen:

  • Museo de la Alfabetización
  • Luisa, ehemalige Alphabetisiererin, Professorin der Universität für Pädagogik und Leiterin des Museums der Alphabetisierung
  • Juventud Rebelde, 2012: La Campana del Siglo. Historias de la alfabetización cubana contadas por sus protagonistas.
  • deutschsprachiges Wikipedia: „Analphabetismus“, aufgerufen am 29.02.2016

Dieser Artikel ist von Julie. Hier geht es zu weiteren Artikeln von ihr.

3 Gedanken zu „Yo sí puedo – Ja, ich kann (Teil 2: Einfluss der Alphabetisierungkampagne auf das Herausbilden der revolutionären und solidarischen Identität einer Generation)“

  1. Lieber Sascha,
    danke für deinen Kommentar, es freut mich, dass dir mein Artikel inhaltlich gefallen hat.
    Deine Meinung bezüglich meiner geschlechtergerechten Sprache hast du bereits bei meinem letzten Artikel und dem Artikel von Mary wiederholt kundgetan. Ich habe auf deinen Kommentar meines letzten Artikels geantwortet und erklärt, warum ich mich so ausdrücke, wie ich es mache. Ebenso habe ich dies in meinen Artikeln immer wieder dargestellt. Ich habe verstanden, dass du von meiner Schreibweise nichts hältst, durch deine wiederholten Kommentare werde ich daran aber trotzdem nichts ändern, da ich es für mich weiterhin für sinnvoll und richtig erachte.
    Übrigens hat mich letztens meine Geschichtslehrerin hier in Cuba bei einer Exkursion darauf aufmerksam gemacht, dass auf einem Plakat „el hombre“ stand und damitm wie auch im Wörterbuch, „der Mensch“ als Wesen gemeint war. Sie beschwerte sich, dass dort nicht steht „el hombre y la mujer“; sie beschwerte sich über die Geschlechterasymmetrie in der spanischen Sprache und die systematische Benachteiligung der Frau in diesem Zusammenhang.
    Sie erzählte mir auch, dass es Bestrebungen gibt, die spanische Sprache hin zu mehr Geschlechtergerechtigkeit zu verändern. Beispielsweise schreiben manche Menschen anstatt eines „o“ am Ende eines Wortes (was die männliche Form ist, „a“ wäre die weibliche Form) ein @, was beide Formen einschließt, z.B. anstatt „amigos“ (was Männer und Frauen einschließt, aber die männliche Form ist) „amig@s“.
    Ob die DDR gleichberechtigt und eine Anpassung der Sprache deshalb nicht nötig war, kann ich nicht beurteilen. Allerdings gibt es Cubaner*innen, die finden, dass die „cubanische“ Sprache in diesem Sinne verändert werden sollte. So wie ich es eben bei der deutschen Sprache empfinde.
    Julie

  2. Bei uns in der DDR hieß es „Tag des Lehrers“. Darauf freuten auch wir Kinder uns immer sehr, denn wird durften unseren Lehrern eine Freude machen. Manch einer brachte selbstgebackenen Kuchen von zu Hause mit und frische Blumen.

    Daß damit natürlich unsere Lehrerin auch gemeint war, bedurfte keiner Erklärung. Denn in der DDR gab es Gleichberechtigung – da gab es diesen Unsinn nicht, wie „Brigadist*innenleiter*innenversammlungen“ oder „Alphabetisierer*innen“ oder „A*Äff*innenliebe“ – da war der Mensch noch ein Mensch und die Mehrzahl davon nicht die „Mensch*innen“…

    Trotzdem vielen Dank für den interessanten Beitrag! Von Kuba kann man immer noch eine Menge lernen!

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