Das kubanische Theater

Im Teatro Trianón, einem der vielen Theater Havannas, haben wir ordentlich zu staunen, während wir das Theaterstück „Requiem por Yarini“ sehen. Es ist eines der Klassiker des kubanischen Theaters und spielt im Kontext der Prostitution, die in vorrevolutionären Zeiten leider viel zu weit verbreitet war. Der Hauptcharakter, der Zuhälter Yarini, dessen Liebe zu einer Frau aus Santiago ihn am Ende umbringt, ist einer echten Persönlichkeit nachempfunden: Alberto Yarini, dem bekanntesten kubanischen Zuhälter und zu seiner Zeit Symbol des Landes, der 1910 von einem Konkurrenten getötet wurde. Neben der historischen Komponente webt das Stück Rituale und Götter der auf Kuba verbreitetsten Religion, Yoruba, ein, die sich als wahre Triebkräfte hinter den Geschehnissen des Stückes offenbaren; somit ist das Werk prall gefühlt mit kubanischer Kultur und Geschichte. Wir sind beeindruckt vom aufwendigen Bühnenbild, von den Kostümen und von der riesigen Leidenschaft, mit der die Schauspieler:innen die Charaktere verkörpern.

Das hat mich motiviert, ein paar Worte über die Geschichte des kubanischen Theaters und seine Bedeutung in der Gesellschaft zu schreiben.

Vor der europäischen Kolonisation

Das Theater ist bereits unter den Ureinwohner:innen Kubas, den Taínos, wohl etabliert. Ihre Vorstellungen heißen Areítos. Dabei handelt es sich um eine Mischung von Gesang, Musik und Tanz. Die Schauspieler:innen benutzen Schminke, die aus Federn und Blumen gewonnen wird, und malen sich ihre Körper Schwarz und Rot an. Anders als im frühen europäischen Theater benutzen sie keine Masken. Zu ihren Musikinstrumenten gehören hölzerne Trommeln namens Mayohuacán, die als das wichtigste Instrument der Taínos gelten; große Seeschnecken werden als Trompeten verwendet und sind als Guamo bekannt; um die Arme und Beine werden Muscheln getragen, die als Glocken dienen; ebenso werden Rasseln und Flöten verwendet. Die Areítos werden zu religiösen Zwecken aufgeführt und enden mit einem magischen Ritual, das der Landwirtschaft helfen soll. Sie sind ebenso kollektive Vorstellungen, an denen die gesamte Gemeinde teilhat und spiegeln die Politik, Kultur und Weltanschauung der Taínos wider.

Mit der europäischen Kolonisation Amerikas finden die Aufführungen ein brutales Ende. Im Jahr 1512 werden die Gesetze von Burgos beschlossen, um die Beziehung zwischen der indigenen Bevölkerung und den spanischen Siedler:innen zu regeln. Unter anderem verbieten diese Gesetze die Areítos. Mit der Vertreibung und Unterwerfung der Einheimischen, der Zerstörung ihrer Gemeinschaften und sozialen Strukturen, mit der Einführung des Privateigentums und der sozialen Klassen, die der gemeinschaftlichen Natur der Areítos zuwiderlaufen, sterben sie aus. Heutzutage ist dieses kulturelle Erbe vollkommen ausgelöscht.

Spanische Kolonialzeit

Die spanischen Siedler:innen bringen ihre Kultur mit sich und lange Zeit entwickelt sich das kubanische Theater parallel zum europäischen. Nach wie vor behält das Theater seinen religiösen Charakter und konzentriert sich vor allem auf den katholischen Feiertag Fronleichnam. Neben den Werken der wohlhabenden Siedler:innen entwickelt sich auch unter den afrikanischen Sklav:innen eine Theaterkultur. Sie wird von den Weißen nicht anerkannt und kann nicht im offiziellen Rahmen ausgeübt werden, wohl aber auf Festen und in religiösen Zeremonien. Inmitten von Unterdrückung und Assimilation an die europäische Kultur können die Sklav:innen eine eigene Kultur aufbauen und Stärke und Hoffnung finden.

Im 19. Jahrhundert entwickelt sich auf Kuba die Romantik. Sie ist beeinflusst von Verlangen nach Freiheit und Revolution, vom Wunsch nach einer eigenen Nation und von der Unterscheidung zwischen Kubaner:innen und Spanier:innen. Es ist kein Zufall, dass zur gleichen Zeit immer mehr Menschen fordern, dass Kuba sich von Spanien loskämpft und zu einem eigenständigen Land wird. Das romantische Theater hat außerdem eine Vorliebe für Motive aus dem europäischen Mittelalter und aus der Eroberung und Kolonisation Amerikas und ein Interesse an den sozialen Problemen der Menschen. Sie deckt als Triebkraft der Gesellschaft die Unterdrückung der Bäuer:innen und Sklav:innen auf der einen Seite und die Bourgeoisie, die einen Sklavenaufstand fürchtet, auf der anderen Seite auf.

Es entsteht das Bufo-Theater, das mehr und mehr europäischen Einfluss verliert und kreolisch wird, also sich an der Kultur der afrikanischen Sklav:innen bzw. ihrer Nachfahr:innen orientiert. Dadurch löst es Unbehagen unter den Kolonialherren aus. Am 22. Januar 1869 spielt im Theater Villanueva in Havanna eine Gruppe von Bufos, um Geld für den kubanischen Unabhängkeitskampf zu sammeln; am Ende ihrer Aufführung rufen die Zuschauer:innen „Lang lebe Céspedes!“ (Carlos Céspedes ist ein wichtiger kubanischer Unabhängigkeitskämpfer) und „Lang lebe das freie Kuba!“. Als Reaktion beginnt das spanische Militär Schießereien in der ganzen Stadt und mehrere Menschen werden festgenommen, verletzt oder getötet. Laut Erzählungen ist unter den Zuschauer:innen des Theaterstücks auch der 16-jährige José Martí, der später zur wichtigsten Person im Kampf für die kubanische Unabhängigkeit werden würde. Zu diesem Anlass gilt seit 1980 der 22. Januar als der Tag des kubanischen Theaters.

Es entsteht ebenso das Mambí-Theater, benannt nach den Mambises, den Guerilla-Kämpfern, die für die Loslösung des Landes von Spanien kämpfen. Wegen seiner politischen Verbindungen muss das Theater in der Illegalität aufgeführt werden. Seine wichtigsten Werke werden von José Martí geschrieben – zu ihnen zählt Abdala, Amor con Amor se paga (Liebe wird mit Liebe bezahlt) und Patria y Libertad (Heimat und Freiheit).

Nach der Unabhängigkeit

Die Unabhängigkeitsbewegung gipfelt im Kubanischen Unabhängigkeitskrieg, im Spanischen auch bekannt als der Notwendige Krieg (Guerra Necesaria). Er dauert von 1895 bis 1898 und beendet die 400 Jahre alte Kolonialherrschaft Spaniens. Zur gleichen Zeit fällt Kuba unter die Herrschaft der USA und erlebt wirtschaftliche und politische Krisen. Auch das Theater fällt in eine Krise und ist von Frustration geprägt. Eine Zeit lang bleibt das Alhambra-Theater in Havanna als einzige offizielle Bühne für Theaterwerke übrig; dort wird das Bufo-Theater des vorigen Jahrhunderts aufgegriffen.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts strebt das Kino auf und verdrängt das Theater nach und nach; Veranstaltungsorte werden von Theaterbühnen zu Filmvorführungsräumen umgebaut. Seit dem 1950er Jahren wird das Fernsehen durch seine Fähigkeit, die Menschen in ihren Häusern zu erreichen, ebenfalls zu einer Gefahr. Dem Theater mangeln nach und nach Gelder und Veranstaltungsorte; die Theaterkünstler:innen müssen es oft mit ihrem persönlichen Einkommen finanzieren.

Dennoch entwickelt sich das Theater durch neue Technologien und dramaturgische Entwicklungen weiter. Zu den bekanntesten Bühnenautoren der Zeit gehören Virgilio Piñera, Rolando Ferrer und Carlos Felipe, die als Erneuerer des kubanischen Theaters gelten. Von letzterem stammt auch das Stück „Requiem por Yarini“, das ich anfangs erwähnt habe.

Das Theater seit 1959

Im Jahr 1959 gewinnt die kubanische Revolution – das Land wird von den USA unabhängig und beginnt einen sozialistischen Entwicklungsweg. Ein sozialer und kultureller Aufschwung zieht sich durch das Land, der auch das Theater mitreißt. Reguläre Theateraufführungen haben zuvor als eine Sache der Reichen gegolten – zum einen weil die Eintrittspreise zu hoch für die Armen waren, zum anderen weil ihnen nachgesagt wurde, sie wären zu ungebildet, um das Theater wertzuschätzen. Doch mit der Revolution kommt eine neue Philosophie an die Macht, laut der gerade die Bäuer:innen und Arbeiter:innen die Kultur des Landes schaffen. Die Regierung beginnt, das Theater zu subventionieren, damit es für jede und jeden erhältlich wird. Bei uns lag der Eintrittspreis für „Requiem por Yarini“ bei 50 Pesos, für Studierende waren es nur 20 Pesos, umgerechnet 38 bzw. 15 Cent. Bei manchen Aufführungen von Theaterstücken und Filmen ist der Eintritt kostenlos. Auch die Künster:innen verdienen endlich genug Geld, um sich vollkommen auf das Theater zu konzentrieren, ohne ihren Lebensunterhalt anderweitig verdienen zu müssen. Zudem errichtet der Staat neue Theater – heute gibt es in Havanna mehr als ein Dutzend Theater, die größten von ihnen übrigens nach deutschen Klassikern benannt, so das „Teatro Karl Marx“ und das „Centro Cultural Bertolt Brecht“.

Zu den wichtigsten modernen Dramaturgen des Landes zählt Abelardo Estorino, der für seine Werke den Premio Nacional de Literatura und für sein Buch Teatro den Premio de la Crítica gewonnen hat. Ebenfalls erwähnenswert sind Antón Arrufat und José Triana.

Das Theater lebt und gedeiht in Kuba. Es bildet einen wichtigen Zweig der kubanischen Kultur und für viele eine qualitative und günstige Form der Unterhaltung. Es hat eine lange und vor allem revolutionäre Geschichte hinter sich, immer wieder ist es ein Instrument der Armen und Unterdrückten, mit dem sie die Geschichte des Landes in ihre eigene Hand nehmen und sich gegen Fremdherrschaft wehren. Diese Geschichte wird bis heute weitergeschrieben und hat noch lange kein Ende in Sicht.

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