Wie ich in einem Kraftwerk in Cuba den gesellschaftlichen Charakter der Arbeit erfahre
Ich stehe im fünften Stock des Verwaltungsgebäudes eines der größten thermischen Kraftwerke zur Stromerzeugung der Insel und blicke auf die Einfahrt zum Kraftwerksgelände. Es ist 7.30 Uhr und ein Bus bringt gerade den Großteil der Belegschaft zum Arbeitsplatz. Da das Kraftwerk normalerweise auch nachts läuft und überwacht werden muss, gibt es natürlich auch einige Arbeiter, die schon da sind. Ich selbst arbeite für ein paar Wochen hier als Übersetzer und betreue einen deutschen Techniker, der für die Wartung einiger großer Ventile herbeordert wurde. Die cubanischen Arbeiter steigen nun aus dem Bus. Seit meinem ersten Tag hier, vermittelt mir die Stimmung unter ihnen – seien es Mechaniker, Ingenieure, Elektroniker oder auch die Köche der Kantine ein Gemeinschaftsgefühl. Ist es weil sie alle morgens mit dem gleichen Bus abgeholt werden und abends wieder zurück in die Stadt gebracht werden? Oder weil sie alle um 10 Uhr das gleiche zweite Frühstück, meistens Brot mit Schinken, erhalten und alle vom einfachen Arbeiter bis zum Direktor zusammen zu Mittag essen? Das Gemeinschaftsgefühl auf dem Kraftwerksgelände entsteht bestimmt auch, weil alle zum gleichen Zweck arbeiten, nämlich das Kraftwerk am Laufen zu halten oder wie jetzt, da es in Revision ist, es zu reparieren, damit die Gesellschaft Strom bereitgestellt bekommt. Das Kraftwerk produziert knapp 300 Megawatt elektrischen Strom, das entspricht in Cuba Strom für ca. 1 Million Haushalte.
Ich sehe wie der Chef der technischen Direktion auf dem Hof steht und kameradschaftlich einige ankommende Arbeiterinnen und Arbeiter begrüßt. Doch steckt hinter der kameradschaftlichen Stimmung mehr als nur das sogenannte „karibisches Temperament“?
Gesellschaftliche Produktion – für gemeinsame Interessen oder für Privatinteressen?
Meine Gedanken schweifen ab: Worum geht es grundlegend in einer Gesellschaft? Es geht darum, dass produziert wird. Jede Gesellschaft muss produzieren, damit die Bevölkerung auf einem gewissen Niveau leben kann. Die Produkte sind vielfältig. Seien es Brötchen, Kleider, Wasserhähne oder Häuser, die mit der geschichtlichen Entwicklung der Technologie immer effizienter hergestellt werden können. Auch elektrischer Strom für alle oder Sicherheit auf den Straßen können als Produkte gesellschaftlicher Arbeit gesehen werden. Diese sind auch Dinge bzw. gesellschaftliche Zustände, die jeden Tag neu hergestellt werden müssen, d.h. die reproduziert werden müssen.
Dann stellt sich die Frage wie produziert wird. Muss ein Kraftwerk, eine Bäckerei oder eine Fabrik, die eine x-beliebige Ware herstellt, einer einzelnen Person bzw. einer privaten Firma gehören um zu funktionieren? Wozu führt das, wenn dies privat geschieht? -Es führt dazu, dass jeder Unternehmer seine privaten Gewinninteressen verfolgt und mit den anderen Unternehmern in Konkurrenz tritt. Außerdem konkurrieren die Arbeitnehmer um die knappen Arbeitsplätze und es besteht ein Macht- und Abhängigkeitsverhältnis zwischen Arbeitern und Chef. In den ursprünglichen menschlichen Gesellschaften wurde einmal gemeinsam für die Bedürfnisse der Mitglieder produziert. Mit unserer technologischen Entwicklung der Produktionsmittel heute wäre das auch möglich, wenn wir sie unter gesellschaftliche Kontrolle bringen, sozusagen durch die Menschen für die Menschen produzieren.
In Cuba wird unter gesellschaftlicher Kontrolle der großen Kraftwerke, Bäckereien, Fabriken etc. produziert. Die wichtigen Produktionsmittel sind in gesellschaftlichem, nicht privatem Besitz. Eine Folge davon ist, dass sich hier im Kraftwerk die meisten einfach mit „Compañero/Compañera“, übersetzt „Genosse/Genossin“, ansprechen. Es wird hier auch im persönlichen Umgang klarer deutlich, dass die Arbeit von jedem gebraucht wird. Es gibt wenig Gefühl von Hierarchie zwischen den Arbeitern -und wenn, dann liegt es in der technischen Kompetenz begründet. Und es ist ja auch klar: Wenn beispielsweise der Koch nicht kocht, kann der Direktor des Kraftwerks nicht essen und somit nicht arbeiten. Es ist hier nicht verschleiert, dass jeder an seinem speziellen Platz in der Arbeitsteilung wichtig ist und gebraucht wird. Deshalb verdienen auch alle annähernd das gleiche Gehalt. Und wenn alle gut arbeiten, dann hat das cubanische Volk den elektrischen Strom den es jeden Tag braucht. Es gibt wie in allen strukturell unterentwickelten Ländern zwar öfter Stromausfälle in Cuba, in den letzten Jahren konnte die durchschnittliche Zeit von Stromausfällen jedoch reduziert werden.
So wie ich es erlebe, sind die Compañeras und Compañeros hier im Kraftwerrk mit viel Herzblut und Engagement bei der Sache. Sie wissen ja auch was sie tun: Sie arbeiten für ihr Land, für ihre Gesellschaft, für sich, ihre Familie, ihre Freunde und Nachbarn. Wie ist das im Gegensatz dazu bei uns? Arbeiten wir direkt für die Gesellschaft oder nicht doch eher für die Bereicherung einiger Weniger als vorrangigen Zweck?
Die vier großen Energiekonzerne und Kraftwerksbetreiber in Deutschland verdienen und privatisieren seit Jahrzehnten Milliardengewinne. Diese sammeln sich dann auf Privatkonten, gegebenenfalls geheimen Konten irgendwelcher Tochterfirmen beispielsweise in der Karibik, vielleicht auf den Cayman Islands, quasi nebenan von Cuba. Heute, wo beispielsweise in Deutschland der Ausstieg aus der Atomenergie durchgeführt wird, weigern sie sich die Konzerne ihrer Aufgabe, nämlich dem Rückbau der Meiler und der Entsorgung des radioaktiven Mülls, entsprechend nach zu kommen und schieben die Verantwortung auf den Staat, also letzten Endes auf die Gesellschaft ab. – Auf eben diese Gesellschaft und auf die Menschen, die zuvor durch ihre Arbeit die großen Gewinne der Konzerne erarbeitet haben. Das ist ein aktuelles Beispiel an dem der große Widerspruch des Kapitalismus zu Tage tritt: Alle Arbeiterinnen und Arbeiter haben gemeinsam, gesellschaftlich produziert, aber nur einige wenige Chefs und Manager der Konzerne haben sich die Gewinne angeeignet. Dann wird die Gesamtheit der arbeitenden Menschen in Deutschland in Form von Steuern dazu herangezogen beispielsweise den Atomausstieg zu finanzieren.
Eine bessere Welt ist möglich
Ich stehe im zehnten Stock des Kraftwerks über dem Dampferzeuger. Auch ohne wirklich mit anzupacken, weil ich lediglich als Übersetzer bei der Wartung der Ventile tätig bin, komme ich ins Schwitzen und mir steht der Schweiß unterm Helm. Ein Luftzug vom Meer durch eine Spalte der Wellblechverkleidung bringt salzige Abkühlung. Hier wird schwer gearbeitet, es riecht nach Schmieröl. Es werden gerade einige dicke Sechskantmuttern von dem ca. einen Meter großen Ventil vom cubanischen Mechaniker Eliseo gelöst. Man scherzt und arbeitet im Team, man sieht, dass sie die Handgriffe kennen. Der deutsche Techniker meint schmunzelnd zu mir „Die Jungs hier sind gut ausgebildet, die sind fit.“ Wir Deutsche sind nur der Vorschrift halber vor Ort, da es sich um Sicherheits-Ventile einer deutschen Firma handelt. Nach einigen Stunden sind wir fertig, räumen auf und steigen mit den Werkzeugen die metallene Wendeltreppe hinab. Während meines 3-wöchigen Aufenthaltes freut es mich zu sehen, dass ein großes gesellschaftliches Projekt, wie ein Kraftwerk in Stand zu halten, auch funktioniert, wenn es kein Profitinteresse dahinter gibt. Und, dass es trotz der Wirtschaftsblockade klappt, welche zum Beispiel auch für meine Firma die Beschaffung von Ersatzteilen erschwert und teilweise unmöglich macht ist umso bewundernswerter. Die Grundlage einer Gesellschaft kann sein, dass jeder nach seinen Bedürfnissen und so gut er kann an seinem Platz zur Produktion des gesellschaftlichen Reichtums beiträgt. Dann können die Früchte der gesellschaftlichen Arbeit (z.B. elektrischer Strom, Brote, medizinische Versorgung, kulturelle Angebote etc.) nach humanistischen Kriterien verteilt werden.
Den großen Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung aufheben
Cuba ist, wie unser Ökonomieprofessor sagt, „immer noch ein strukturell unterentwickeltes Land.“ Ohne seine Revolution wäre es jedoch vermutlich irgend ein unterentwickeltes, durch die Interessen der großen transnationalen Konzerne manipulierbares Land. Vielleicht wäre es auch heute noch das Mafiaparadies mit großen sozialen Ungerechtigkeiten, das es einmal war. Im Vergleich zu einer Industrienation wie Deutschland hat Cuba nur einen kleinen Bruchteil der technischen und ökonomischen Möglichkeiten um der Bevölkerung ein angenehmes Leben in materiellem Wohlstand zu bieten und hat außerdem mit vielen äußeren Widersprüchen und Einflussnahmen zu kämpfen. Umso bewundernswerter finde ich es, dass Cuba weltweit gesehen seit mehr als 50 Jahren als ein Vorbild dafür gilt, wie mit der Vergesellschaftung der entscheidenden Produktionsmittel ein soziales Projekt verwirklicht werden kann, da der grundlegende Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung aufgehoben ist.
So wie unsere Philosophie-Professorin in den 70er Jahren von einer Deutschen Professorin aus der DDR darin ausgebildet wurde, wie man Gesellschaft verstehen kann, so wird auch uns immer klarer, was die Grundlage einer besseren Gesellschaft ist und worum es im Kern geht: Es geht um die „Vergesellschaftung der fundamentalen Produktionsmittel.“
Es geht nicht um ein Stück vom Kuchen. Es geht um die ganze Bäckerei.
Dieser Artikel ist von Karl. Klicke hier für alle Artikel von Karl.
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