Sechs Monate später, nachdem Kontakte geknüpft, Erlebnisse gemacht und der ein oder andere Schluss bereits gezogen wurde, sitze ich hier und überlege mir, welcher Aspekt meines kubanischen Lebens mich im letzten Monat beschäftigt hat. An vieles habe ich mich gewöhnen können; das Leben im kubanischen Studierendenwohnheim, mit fließend Wasser und auch ohne, die kalten Duschen, das zügige Zimmer, die nicht-vorhandene Klospülung, die Feuchtigkeit, die Hitze, die kontrastierende Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Gütern, das Zusammenleben mit verschiedensten Tierchen (wie Geckos) und so manch andere kubanische Eigenart. In diesem Prozess wurde mir immer wieder bewusst, wie außergewöhnlich die Anpassungsfähigkeit von uns Menschen ist. Was ich vor sechs Monaten noch als Belastung empfand, ist für mich mittlerweile Normalität geworden, mit gewissen kubanischen Eigenheiten oder Unannehmlichkeiten, wie viele sie bevorzugt bezeichnen, habe ich mich sogar angefreundet.
So geht es mir mit den kubanischen guaguas (Bussen): mit ihren kräftigen Rhythmen und lebendigen Schauplätzen verkörpern sie für mich ein authentisches Kubaerlebnis, das mich immer wieder mit Freude erfüllt. Wenn ich das Kubaner*innen erzähle, erklären sie mich für verrückt, würden sie sich doch nichts sehnlicher wünschen, als halbvolle, leise schnurrende Busse. Während ich diese mitteleuropäischen, perfekt-getimenten Busse langweilig finde und mir das lateinamerikanische Chaos mehr Spaß macht, musste ich mir irgendwann eingestehen, dass meine Einstellung auch sicher davon getragen wird, dass ich, sobald es mir beliebt, wieder in die Welt mit den perfekt-getimten Bussen abtauchen kann. Ich bin nicht darauf angewiesen, hier zu leben; ich habe sozusagen das Privileg, zu wählen.
Das ist ein Thema, über das ich in den letzten Wochen viel nachgedacht habe. Die mir inhärente Rolle als Bürgerin del primer mundo, der Ersten-Welt. Ich erlaube mir in dieser Reflexion diesen, in weiten Teilen Europas nicht mehr sehr gängigen Begriff zu nutzen, weil er einerseits in Kuba verwendet wird und andererseits meiner Meinung nach eine real existierende Einteilung der Welt, bedingt durch die Geschichte, darstellt. Diese Spaltung sollte nicht durch Eine-Welt-Euphemismen verwischt werden. Insbesondere, weil die Folgen vergangener und gegenwärtiger Ausbeutung der sogenannten Ersten-Welt sich immer noch fatal auf die Entwicklung der Dritten-Welt auswirken.
Ich also, eine weiße Europäerin, wurde mir nach einigen Monaten in Kuba bewusst, dass auch ich einen unablegbaren Stempel trage: Ich bin Tochter der Ersten-Welt, der Kolonialmächte, der Privilegierten. Und obwohl das an und für sich ja nichts Neues ist, ist mir trotzdem, vor allem im Kontakt mit Kubaner*innen klar geworden, dass dies das unablegbare Verhältnis ist, in dem ich zur Welt stehe. Wir stehen gemeinsam – Freunde und Freundinnen aus verschiedenen Teilen der Welt -, aber im selben Moment stehen wir uns auch immer gegenüber. Erste-Welt vs. Dritte-Welt. Deren Möglichkeiten vs. unsere Möglichkeiten. Vor diesem Hintergrund versuche ich manchmal sowohl meine Solidaritätsarbeit als auch Privates als solidarisch interpretierbares Verhalten zu deuten. Wenn ich beispielsweise eine Kubaner*in zu einem Abendessen einlade, das mich 10-15 CUC kostet(ca. 1:1 zum US-Dollar), ist das solidarisch von mir oder eher eine arrogante Geste? Weißt es nicht genau auf die Unterschiede unserer Möglichkeiten hin, wenn ich mein altes Handy verschenke, während ich beschlossen habe, dass ich mir nach fünf Jahren jetzt ein neues gönne? Zweifelsohne ist es besser, wenn ich das Handy jemandem gebe, als dass ich es irgendwo rumliegen lasse. Trotzdem ist mir die Rolle, die ich unleugbar inne habe, oft unangenehm.
In Kuba ist das ganze dann noch mal komplizierter, weil die Gesellschaftspyramide invertiert ist. Das heißt Bildung und Wohlstand stehen eher in einem negativen als positiven Zusammenhang. Aus unseren Ländern sind wir das historisch genau umgekehrt gewohnt bzw. können wir einen positiven Zusammenhang zwischen Wohlstand und Bildung kaum leugnen. Dieser Umstand führt dazu, dass unsere Freund*innen, welche studieren oder/und aus Akademikerfamilien kommen in Kuba oftmals zu einer der ärmeren Bevölkerungsgruppen zählen. Diesen Aspekt fand ich, als ich begann ihn wahrzunehmen, sehr verwirrend, woraufhin ich mit verschiedenen Menschen darüber sprach. Dabei kam klar heraus, dass genau dieser Umstand bei vielen Akademiker*innen und auch bereits Studierenden zu Unzufriedenheit führt, da sie das Gefühl haben, dass ihre Bemühungen und Opfer, die ein Studium zweifelsohne einfordert, zumindest monetär nicht die erhoffte Wertschätzung erhalten. (Dass Akademiker*innen in vielen Fällen weniger verdienen, hängt u.a. damit zusammen, dass sie oft Staatsangestellte sind und der Staat den lokalen Peso auszahlt, während in der Privatwirtschaft meist eher Divisen eingenommen werden und Löhne somit auch en divisa ausgezahlt werden können.)
Und so stehen wir uns dann oft gegenüber: deren Möglichkeiten vs. Unsere Möglichkeiten. Erste Welt vs. Dritte Welt. Es erscheint mir wichtig das zu betonen, weil ich oft den Eindruck bekommen habe, dass dieser Umstand bei manchen Reflexionen außen vor gelassen oder missinterpretiert wird. Wenn nämlich ein Freund argumentiert „Ja aber schau, im Sozialismus arbeiten wir, verdienen aber kaum das Nötige. Es ist uns quasi unmöglich zu reisen, die Welt kennenzulernen.“ Damit hat er natürlich teilweise recht, die Ursachen dieser Umstände allein auf den Sozialimus zu schieben, finde ich jedoch nicht korrekt. In seinem Buch „Die Offenen Adern Lateinamerikas“ schreibt Edoardo Galeano 1978 aus der Sicht Lateinamerikas sprechend „Unsere Niederlage war seit jeher ein untrennbarer Bestandteil des fremden Sieges; unser Reichtum hat immer unsere Armut hervorgebracht und dazu gedient, den Wohlstand anderer zu nähren.“ Genau daran versuche ich manche Kubaner*in dann zu erinnern. Ich bin in einem Land geboren, dass seit Jahrhunderten oder vielmehr Jahrtausenden ein Land der Ausbeuter ist. Meinen Wohlstand verdanke ich diesem Umstand, wie sie ihre bescheidenen Lebensverhältnisse der Ausbeutung ihres Landes verdanken. Das ist oft der Konsens den wir erreichen.
Fakt bleibt, dass diese Erklärung keine Gerechtigkeit bringt. Sie legitimiert weder unseren Wohlstand noch deren Armut. Es bleibt eine verdammte Ungerechtigkeit. Umso wichtiger ist, dass allen klar ist, wie unwahrscheinlich es wäre, dass sich Kubaner*innen unter kapitalistischen Lebensbedingungen mehr leisten könnten. Mit großer Wahrscheinlichkeit wären weite Teile der Gesellschaft sowohl ungebildeter als auch ärmer, wobei da wohl ein positiver Zusammenhang bestünde. Dank der kubanischen Revolution vor 61 Jahren, die zur vollständigen Souveränität des Landes führte, konnte Kuba der Ausbeutung durch fremde Länder ein Ende setzen. Trotzdem ist es ein langer Weg, bis die Folgen dieser verheerenden Ausbeutung und Zerstörung sowie die vielseitigen gewaltsamen Umwälzungen eines Landes über Jahrhunderte hinweg aufgehoben werden können.
Das ist ein Artikel von Johanna.
Vielleicht sollte man dann doch einfach mal den Mut aufbringen, längere Zeit in einem Land zu leben, zu studieren oder zu arbeiten. Ich fand fünf Jahre in Rumänien – in der Zeit als Gas, Wasser und Strom öfters ausfielen – genauso interessant wie neun Jahre São Paulo. Fast wird man Einheimischer, zumindest verlaufen die Linien dann anders. Nur Mut! – Che kam auch aus der Mittelschicht eines anderen Landes – ‚dadrunter‘ geht es aber auch!
sehr guter Kommentar zum Thema: Die mir inhärente Rolle als Bürgerin der primer mundo, der Ersten-Welt.
Bei aller Solidarität mit Cuba: aus diesem Ungleichgewicht gibt es kein Entkommen. Wenigstens bewußt sein sollte uns das.
BZI
Sehr gut geschrieben und regt zum Nachdenken an,
Danke