Die „Plaza Vieja“ (zu deutsch: Alter Platz) bildet gemeinsam mit der „Plaza de la Catedral“ und der „Plaza de Armas“ das Herzstück der Altstadt Havannas. Bisweilen werden die Plätze an – nicht gerade eine Seltenheit – sonnigen Tagen von Touristenströmen geflutet. Man bestaunt die teils mehrere Jahrhunderte alten Bauten, füllt den Kameraspeicher mit Erinnerungsfotos oder bestellt sich zum Klang klassischer bis moderner kubanischer Musik einen Kaffee, ein kühles Bier oder gar einen der ausgezeichneten kubanischen Cocktails.
Die “Plaza Vieja“ jedoch hat mehr zu bieten als Sehenswürdigkeiten und Einkehrmöglichkeiten für Touristen. Ein recht unscheinbares Gebäude gleich neben dem Planetarium lädt zu einem Besuch der „Cámara Oscura“ (Dunkelkammer) ein. Deren Funktionsweise war bereits den Menschen der Antike bekannt und wurde nicht zuletzt von Leonardo da Vinci für seine Arbeiten optimiert. Weltweit gibt es knapp über 70 dieser „Cámaras“, von denen zwei in Lateinamerika ihren Platz haben.
Mit dem Aufzug geht es hoch auf die einladende Dachterrasse des Gebäudes. Nach bescheidener Wartezeit werden die BesucherInnen in einen abgedunkelten Raum geführt, in dessen Mitte eine kreisrunde Leinwand hängt. Ein außerhalb auf dem Dach des Raumes angebrachter Spiegel, der sich um fast 360 Grad drehen lässt, reflektiert das einfallende Sonnenlicht und projiziert so ein gestochen scharfes Bild der Stadt in Echtzeit auf die weiße Oberfläche. Eine Mitarbeiterin stellt, sobald das Licht ausgeschaltet ist, die berühmtesten Gebäude der Stadt vor. Dabei beschränkt sie sich nicht nur auf die Altstadt oder die Plaza Vieja, sondern lenkt die staunenden Blicke der Versammelten darüber hinaus auf die goldene Kuppel des „Capitolios“: Ein detailgetreuer und doch – ganz zum Stolz der KubanerInnen – drei Meter höherer Nachbau des Kapitols von Washington D.C., der Hauptstadt der USA.
Auch ich gehöre am beschriebenen Tag in der Cámara Oscura (es ist mein dritter und sicher nicht letzter Besuch) zu den Schaulustigen. Während sich die vorführende Kubanerin einen Spaß daraus macht, den auf der Leinwand fahrenden Stadtbus in der Nähe des Hafens mit einem Blatt Papier zu „entführen“, betrachte ich vor meinem inneren Auge weiterhin die Silhouette der Stadt und frage mich, was sich architektonisch nach dem Triumph der Revolution 1959 in Havanna getan hat.
Gibt es neben all den älteren Monumenten und Gebäuden auch jüngere, „revolutionäre“ Architektur? Hat mein Laienblick sie vielleicht nicht als solche wahrnehmen können? Und falls ich mich tatsächlich von anderen Augenschmeichlern und humoriger kubanischer Vortragsweise ablenken ließ, woran lässt sich dann revolutionäre Architektur erkennen und wo ist sie in Havanna zu finden?
Zu Beginn der Recherche schelte ich mich sogleich für meine Unaufmerksamkeit in der Cámara Oscura, denn ein zentrales und bei weitem nicht unscheinbares Wahrzeichen der kubanischen Revolution ist mir in der Tat entgangen. Auf der „Plaza de la Revolución“ ragt der 109 Meter hohe Turm des Denkmals (siehe Beitragsbild) für den kubanischen Nationalhelden, verehrten Autor und Vordenker José Martí empor, der vollständig aus hellgrauem Marmor erbaut wurde. Der Platz, zu Zeiten der Batista-Diktatur „Plaza Cívica“ (Platz der Bürgerschaft) genannt, symbolisiert die Aneignung und Transformation bestehender Architektur durch die Revolution. Man versah sie ganz bewusst mit einer politischen Komponente: Der Rückeroberung öffentlichen Raumes. Transformation bedeutete demzufolge, die vormals exklusiven oder der Diktatur gewidmeten Gebäude und Plätze dem gesamten Volk wieder zugänglich zu machen. So wird die „Plaza de la Revolución“ – u.a. am ersten Januar – noch heute für diverse Feierlichkeiten und Zeremonien genutzt. Der bittere Batista-Nachgeschmack ist hier nicht mehr zu finden.
Ein weiteres Bauprojekt, das dem Leitmotiv der Kollektivierung und dem intensivierten sozialen Wohnungsbau der 1960er-Jahre entsprang, ist das sogenannte „Edificio Experimental Girón“. Es wurde – direkt am Meer an der Flaniermeile Malecón gelegen – im Stadtteil Vedado verwirklicht, der vor der Revolution von der kubanischen Oberschicht bewohnt war.
Nun sollten also auch die einfacheren Leute an dem herrlichen Ausblick und der guten Lage partizipieren können. Dem siebzehn Meter hohen Wohngebäude widmete sein Architekt das Thema „Gemeinschaft im Hochhaus“, das bis dato noch nicht als Motiv für den Bau von Hochhäusern gedient hatte und nach der Revolution eine neue, soziale Symbolik mit sich bringen sollte. Diese wurde durch eine Brückensystematik (siehe Abbildung) realisiert, welche die beiden Baukörper des Girón miteinander verband. Mit erheblich weniger Aufwand hätte man auch schlicht zwei voneinander separierte Hochhäuser errichten können.
Anhand dieser Beispiele zeichnen sich bereits wichtige Prinzipien der revolutionären Architektur ab. Nicht nur in Havanna, in ganz Kuba rückte das Soziale ins Zentrum architektonischer Raumgestaltung. Landwirtschaftliche und genossenschaftliche Siedlungen entstanden, um die jeweilige Region oder im Falle Havannas das jeweilige Viertel lebenswerter zu machen. Sozial sollte aber nicht nur bedeuten, allen ein wohnliches Existenzminimum, sondern vielmehr Gemeinwesen zu schaffen, die mit einer aufgewerteten Infrastruktur von Schulen, Kulturräumen etc. verwoben sind. Bauen sollte für alle sein und sich dieser Maxime unterordnen. Nicht von ungefähr entstand daraus der Slogan:
„Revolución es construir.“ – „Revolution ist Bauen.“
Kurz bevor es mit der für uns „Cujaeños“ (als solche bezeichnen sich die StudentInnen der polytechnischen Universität CUJAE) existenziellen Buslinie P9 die „La Rampa“, ein tatsächlich rampenähnliches Straßengefälle in Richtung Malecón, hinabgeht, befindet sich auf der rechten Seite der Kreuzung das bekannte „Habana Libre“. Dessen ursprünglicher Name „Habana Hilton“ fiel ebenfalls der politischen und architektonischen Revolution zum Opfer und ist damit wenigstens in Kuba in Vergessenheit geraten.
Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite steht ein Palast, den man nicht sofort als solchen und mit besagtem Laienblick auch nicht als revolutionäre Architektur erkennt. Es ist ein Palast für Speiseeis, die „Coppelia“, mit mehreren Eingängen, die häufig bis in die Abendstunden von Zuckerhungrigen (Fortsetzung von Simon und mir folgt) belagert werden. Die Coppelia besticht sowohl mit üppigen und schmackhaften Portionen als auch mit für KubanerInnen gut bezahlbaren Preisen in der einheimischen Währung. Ihr Architekt, von südamerikanischen Modernisten inspiriert, entwarf ein rundes Gebäude, das an ein gelandetes Ufo erinnern soll. Motive der revolutionären Architektur wie die Zugänglichkeit für alle oder ein zukunftsgerichteter Baustil lassen sich hier erneut identifizieren.
Ich stelle abschließend fest, dass es über sozialistische Architektur noch viel zu lernen und an revolutionärer Architektur in Havanna noch viel zu entdecken gibt. Obgleich optisch weniger auffällig und an Ästhetik orientiert, erschließt sich mir die Idee hinter alledem etwas besser. Es eröffnete mir zudem einen Blick auf das architektonische Gefüge dieser Stadt, der unter touristischer Betrachtungsweise – siehe Cámara Oscura – quasi wegfällt.
Denen, die sich für dieses Thema interessieren und in absehbarer Zeit nicht nach Kuba reisen werden, lege ich das Forschungsprojekt „Träume und Räume einer Revolution – Architektur und Städtebau in Kuba 1959 – 2018“ der Uni Kassel ans Herz. Die spanische Publikation des Kasseler Dozenten Manuel Cuadra, u.a. in Kooperation mit der CUJAE, mit dem Titel „La arquitectura de la Revolución Cubana 1959-2018“ ist ebenfalls online abrufbar.
Dies ist ein Artikel von Pablo. Weitere Artikel von ihm findest du hier.
Pingback: Hommage an den Campus oder: Vom studentischen Leben an der CUJAE | Eine Andere Welt ist möglich