Nach einer kurzen Nacht machten wir uns mit einer kleinen Pomo de Café (Plastikflasche mit Kaffee) in einer Guagua (öffentlicher Bus) auf die lange Reise ans Ende von Havanna. In einem Ohr Musik, am anderen Ohr die nette Frau, die uns Bescheid sagen sollte, wenn wir am Terminal de Cotorro ankommen würden. Mit einem schlafenden Auge und einem neugierigen, halboffenen Auge aus dem Fenster blickend, beobachtete ich die sich verändernde Stadtlandschaft, vom hübschen, kommerziellen Vedado in den industriell- wuseligen Speckgürtel Havannas, “El Cotorro”.
El Cotorro ist der weit entfernteste Stadtteil Havannas und der industrielle Schmelztiegel Kuba’s. Hier reihen sich Fabriken an Fabriken, in denen von Gummi über Stahl bis hin zu Tabletten alles verarbeitet wird. Der Großteil der Menschen im Cotorro arbeitet in den hiesigen Fabriken. Wer hier lebt oder herzieht, hat seinen Arbeitsplatz garantiert. Es ist ein bedeutsames Arbeiter*innenviertel, was als sozial marginalisiert gilt, das heißt einkommensschwache und konflikthafte Familienverhältnisse, eine erhöhte Rate an Drogen-, Alkoholmissbrauch und Gewalttaten, schlechtere Verkehrsanbindung sowie weniger kulturelle und soziale Angebote. Obwohl es in jedem Municipio (Stadtteil) eine öffentliche Casa de Cultura (staatliches Kulturzentrum) gibt, sind zusätzliche zivilgesellschaftliche Projekte wie “Soñarte” (Zusammensetzung aus “soñar” und “arte”, so viel wie Traumkunst, oder Träumen und Kunst), welches wir heute besuchten, in diesen marginalisierten Vierteln besonders wichtig.
Die Mitbegründerin Irma, die Mutter von René, einem der 5 Héroes, begrüßte uns herzlich mit noch mehr Kaffee bei sich zuhause, direkt neben dem Kulturzentrum “Soñarte”. Wie selbstverständlich hingen Fotos von ihr und Fidel sowie Raúl Castro und Hugo Chavez neben Bildern der Familie.
Vor 5 Jahren gründete Irma mit einigen anderen Nachbar*innen das Projekt um mit Hilfe von Kunst und Kultur Problemen im Viertel wie Alkoholismus, Drogen, oder Familienkonflikten vorzubeugen, eine Art soziale Prävention. Bevor das Projekt das heutige Gebäude zur Verfügung hatte, trafen sie sich zunächst zuhause bei Nachbarn, wo Freiwillige anfingen den Kindern aus dem Kiez Mal-, Tanz- und Theater Workshops gaben. Heute hat das Kulturzentrum bis zu 100 eingeschriebene Kinder und Jugendliche pro Semester. Zum Ende jedes Semesters werden alle Künste integriert in einem gemeinsamen Abschlusswerk in der Casa de Cultura vom Cotorro vorgeführt, und die Soñarte Kids seien populär für ihre Talente!
Mit 4 Zeichenkursen, 1 Musikkurs, 2 Tanzkursen und 2 Theaterkursen sei das Projekt vollkommen ausgelastet. Und es gäbe immer mehr Interessierte als Plätze, da “Soñarte” leider nur begrenzte Kapazitäten hat. Alle Kursleiter*innen sind Freiwillige und Künstler*innen aus der Gemeinde, die sonst hauptberuflich z.B. als Lehrer*innen noch arbeiten. So, kommt der Leiter der Casa de Cultura im Cotorro immer direkt nach der Arbeit um mit den Kindern Theater zu spielen. Alle Menschen, die an dem Projekt beteiligt sind, tun dies von Herzen. Alle Angebote sind gratis und offen für jede*n. Das Projekt ist vollkommen unabhängig, selbstorganisiert und wird durch Sach- und Geldspenden wie z.B. von lokalen Künstler*innen und ausländischen, humanitären Organisationen am Leben gehalten. Die meisten Teilnehmer*innen kommen aus sozial schwierigeren Verhältnissen und profitieren enorm von der Unterstützung der Gemeinde. Ihre Eltern bekommen Hilfe bei Problemen, es werden Spezialist*innen herangezogen, und auch die CDR (Nachbarschaftskomittee), die Partei und die Polizei hilft bei der Vermittlung. Das Wohlergehen der Kinder und ihrer Eltern wirkt sich andersherum auch auf das Wohlbefinden der Nachbarschaft aus, sodass letztendlich alle davon profitieren.
Als wir im Kulturzentrum ankamen, saßen da auch schon an die 50 Kinder brav und mit großen Augen voller Vorfreude auf den heutigen Tag. Bevor es an die lustigen Animationsspiele mit der Clownin ging (wo auch wir Teilnehmer*innen des Projektes miteinbezogen wurden beim Tanzen, Zaubern und Blödeln), wurde uns eine brilliante Vorführung nach der anderen präsentiert. Von den kleinsten 5- jährigen Tanzstars bishin zu den 16-jährigen Jugendlichen an der Gitarre, alle waren mit Herz und Seele am Start. Alles natürlich feinste kubanische Kultur vom Rueda de Salsa, über Rumba bis zu Trova von Silvio Rodríguez. Wie Irma sagt, hat das Projekt auch die Funktion kubanische Kultur weiterzubeleben und kollektive Erinnerungskultur von Martí bishin zur kubanischen Revolution der jungen Generation weiterzugeben. Die Leute in ihrer Generation wüssten sehr wohl wie es war im Kapitalismus zu leben, was es hieße in einem “Kuba ohne Hoffnung” leben zu müssen, diese Kinder sind verschont davon. Aus diesem Grund sei es um so wichtiger diese Erinnerungen den Jugendlichen näher zu bringen, und in jedem Stadtviertel ausgezeichnete “Lideres Populares” (voranschreitende Vorbilder) zu haben. Präsentationen wie diese gibt es jeden Samstag. Und einmal im Monat werden alle Geburtstage desselben Monats gemeinsam gefeiert, sodass kein Kind vergessen wird! Nach dem ganzen Spiel und Spaß gab es noch Kaffee und Kuchen für alle, die Kinder sprangen vor lauter Freude und Enthusiasmus durchs ganze Haus; die Ruhigen unter ihnen schnappten sich Papier, Pinsel und Farbe; und die Jugendlichen und Eltern schwangen noch fröhlich weiter das Tanzbein zu Salsarhythmen, und wir, wir beobachteten mit funkelnden Augen und Begeisterung das bunte Treiben, das vor so viel Leben und Liebe sprühte.
Wenn ich heute an “Soñarte” denke, höre ich “Reparador de Sueños” von Silvio Rodríguez, gesungen mit einer Engelsstimme und so viel Passion von einem Mädchen des Projekts. Es war das Eröffungslied der Präsentationen als wir zu Besuch waren, und das Lied was ich mit dem Projekt verbinde. Es erzählt das, was Soñarte für viele dieser Kinder und Jugendlichen, die wir damals im Cotorro trafen, bedeutet – Träume, Hoffnung und Liebe:
Siempre llega el enanito
con sus herramientas
de aflojar los odios y apretar amores.
Siempre llega el enanito,
siempre oreja dentro
con afán risueño de inundar lo roto.
Siempre apartando piedras de aquí,
basura de allá, haciendo labor.
Siempre va esta personita feliz
trocando lo sucio en oro.
Siempre llega hasta el salón principal
donde esta el motor que mueve la luz.
Y siempre allí hace su tarea mejor
el reparador de sueños.
Siempre llega el enanito
hasta la persona,
hasta todo el pueblo, hasta el universo.
Siempre llega el enanito
y desde esa hora
se acaba el silencio y aparece el trino.