Meine erste kleine Entdeckungsreise, die ich in Kuba auf eigene Faust unternahm, führte mich zu einem kleinen Nachbarschaftsprojekt, namens Ventana al Valle (Fenster zum Tal), in Viñales.
Viñales ist ein kleiner, im Westen der Insel gelegener Ort, der von nicht mehr als 30.000 Personen bewohnt wird. Der Westen Kubas ist berühmt für seine atemberaubende Naturlandschaft: „Die hügelige Region ist ein Flickenteppich aus fruchtbaren, rostroten, von Pflügen zerfurchten Feldern, die von strohbedeckten Trockenscheunen, den Tabakhäusern, umgeben sind“, so Lonely Planet. Ein Meer aus grünbewachsenen Bergen macht die Region zum Magneten für Wander_innen. Das Tal von Viñales ist gespickt mit mogotes (Kalksteinmonolithen) und wurde 1999 zur Unesco Weltnaturerbstätte erklärt. Die Anziehungskraft auf natur- und/oder tabakliebende Tourist_innen ist erstaunlich. Viñales stellt nach Havanna und Varadero den drittmeist besuchten Ort Kubas dar.
Als ich auf meiner Reise in Pinar del Rio, dem nächst größeren Ort 30 km südlich von Viñales ankomme, komme ich auf der Straße mit einem Kubaner ins Gespräch, der mir erklärt, dass eigentlich alle Tourist_innen einen ähnlichen Reiseplan wie ich haben: Ein kurzer Stopp in Pinar del Rio, um dann zur eigentlichen Attraktion Viñales zu gelangen. „In Pinar sind die Menschen, denen du auf der Straße begegnest in 9 von 10 Fällen Kubaner_innen – in Viñales ist es anders herum: Die Stadt scheint nur aus Tourist_innen zu bestehen.“
Aha, denke ich und bin gespannt was mich erwartet. Die Idee nach Viñales zu fahren war nicht nur aufgrund der beeindruckenden Naturphänomene, die mich durch Fotos im Internet gelockt haben, motiviert, sondern auch aufgrund der unabhängigen Empfehlungen von drei Freund_innen, die vom Projekt Ventana al Valle geschwärmt hatten, bedingt.
Einer dieser Freunde hatte mir die Telefonnummer von Miguel, dem Projektleiter und -gründer gegeben und mich mit den Worten „Meld‘ dich einfach und sag du bist ein Freund von mir“ ins Ungewisse geschickt. Gesagt, getan. Auf dem Weg zum Camion, der mich von Havanna nach Pinar del Rio bringen sollte, tätigte ich das Telefonat zu Miguel. Nachdem ich mich etwas unbeholfen vorgestellt hatte, erklärte er mir, als wäre ich eine alte Freundin, wie ich am besten von Pinar nach Viñales komme, sagte er hätte einen Schlafplatz für mich und meine Freund_innen und erkundigte sich, ob wir denn heute Abend auch mitessen wollen.
Als wir abends in Viñales bei Miguel ankamen, saß eine Gruppe Menschen am Tisch im Patio und hieß uns sehr herzlich willkommen. Miguels Tochter Adriana, dessen Freund, ein älteres Paar, das aus dem Baskenland zu Besuch war sowie eine weitere Baskin in unserem Alter, der ich auf verschiedenen Veranstaltungen in Havanna auch schon begegnet war. Überall in Miguels Haus waren kleine Verweise zur Izquierda Abertzale (baskische linke Unabhängigkeitsbewegung) zu finden und es taten sich immer mehr Fragen auf:
Um was für ein Projekt handelt es sich?
Welche Verbindung haben Miguel und das Projekt zum Baskenland?
Welchen besonderen Wert hat Nachbarschaftsarbeit in einem vom Tourismus geprägten Ort?
Das Proyecto Ventana al Valle
2012 gründete Miguel das Proyecto Sociocultural Ventana al Valle zusammen mit seiner Frau Deysee, die letztes Jahr tragischerweise ums Leben kam. Wöchentlich finden verschiedene Angebote statt: Tanzkurse, eine Theater-, eine Lese- und eine Musikgruppe. Regelmäßig gibt es Kinoabende, Fiestas del Barrio und Kulturabende zu Traditionen aus Viñales statt. Ziel des Projektes ist das Wiederbeleben und Aufrechterhalten der reichhaltigen und vielfältigen kulturellen Traditionen der Region Viñales. Die Angebote richten sich an die Comunidad Viñales, d.h. an die Bewohner_innen des kleinen Ortes. Die Region zeichnet sich vor allem durch den Anbau von Kaffee, Tabak und Malanga (kubanische Wurzelpflanze) sowie die traditionelle Musik und Geschichtenerzählungen aus. Durch aktuelle wirtschaftliche und soziale Einflüsse sind diese Elemente der Kultur auf dem Weg verloren zu gehen, so Miguel. Mit dem Proyecto Ventana al Valle soll ein Raum geschaffen werden, in dem sich junge und alte Menschen zusammen finden können, um die traditionellen Elemente der kubanischen Kultur (wieder-) zu entdecken.
In einem kleinen Anbau befindet sich das Centro de Información Comunitario (Zentrum für Nachbarschaftsinformation), wo eine kleine aber gut organisierte Bibliothek untergebracht ist. Es stehen Computer und verschiedene Musikinstrumente zur Verfügung. Miguel hat sich außerdem um einen Internetzugang bemüht: Im Hof des Hauses kann man sich ins W-Lan einwählen. Das ist für ein Privathaus in Kuba momentan noch eher die Ausnahme (hier tut sich aber einiges). Hinter dem Haus sind verschiedene Projekte im Aufbau. Es soll eine kleine Bühne und ein überdachter Bereich für Versammlungen und Kurse gebaut werden. Dabei hat das Projekt die Unterstützung des Berliner Kollektivs Interbrigadas, das beim Aufbau des Projekts tatkräftig sowie finanziell hilft. Verschiedene Organisationen aus dem Baskenland, wie z.B. die Asociación Euskadi-Cuba, leisten finanzielle Unterstützung. Immer wieder melden sich internationale Freiwillige, die Interesse haben am Projekt mitzuwirken.
Ein ständiges Kommen und Gehen
Miguel und seine Frau haben auf ihrem Privatgrundstück eine kleine soziale und kulturelle Begegnungsstätte geschaffen. Während der drei Tage, die ich in Viñales verbringe, ist im Haus und auf den Hof ein ständiges Kommen und Gehen. Immer wieder laufen Kinder und Erwachsene aus der Nachbarschaft freudig grüßend am Haus vorbei. Während eines Gesprächs mit Miguel auf der Terrasse läuft ein junger Mann in die Küche, nimmt sich einen Kaffee und gesellt sich kurz zu uns: einer der Tanzlehrer, wird mir später berichtet. Beim gemeinsamen Abendessen kommt ein Junge mit Downsyndrom zum Tisch und bittet um ein Glas Wasser, welches Miguel ihm selbstverständlich eingießt. Nachmittags bringt ein Mann eine Schubkarre, die er sich ausgeliehen hatte zurück. Und als Miguel bemerkt, dass ich während meines Besuchs etwas krank bin, werde ich, als wäre es das selbstverständlichste der Welt, mit verschiedenen Naturheilmitteln und Medikamenten versorgt.
Wie ein Nachbarschaftsprojekt vom Tourismus lebt
Auf meine Frage hin, wie sich das Projekt finanziere, erklärt Miguel, dass neben Spenden ein Großteil des Geldes von der Vermietung einiger Gästezimmer, die im Nebenhaus sind, komme. Auch wir waren hier untergebracht und trugen so, obwohl wir wie Freund_innen behandelt wurden, zur Finanzierung des Projekts bei. Es erschien mir eine großartige Möglichkeit den regen Touristenandrang der Ortschaft zur Finanzierung eines Projektes von und für die Bewohner_innen von Viñales zu nutzen. Die Zimmer waren simpel und in gutem Zustand. Außerdem stand uns eine Küche und ein großes Wohnzimmer, die Hostelcharakter hatten, zur Verfügung. Im Gegensatz zu anderen Casa Particulares, die ich auf meiner Reise kennenlernte und die in ihrem Erscheinen eher schick und/oder kitschig waren, stellte die Wohnküche hier so etwas wie einen Begegnungsraum für interessierte Reisende dar. Das Hostel wurde von Adriana, der Tochter, die ich auf mein Alter schätzen würde, betrieben.
Die Kurse und Gruppen, die das Proyecto Ventana al Valle anbietet, werden teils von Freiwilligen und teils von Mitarbeiter_innen der Casa de la Cultura geleitet. Während ihrer Arbeitszeit, die von der Stadt finanziert wird, werden die Kurse vom Proyecto geleitet.
Woher kam die Inspiration ein Projekt wie dieses ins Leben zu rufen?
Einerseits sahen Miguel und seine Frau unter dem stetig wachsenden Einfluss der modernen globalisierten Welt die Notwendigkeit ein Projekt zur Aufrechterhaltung der regionalen Traditionen zu schaffen. Andererseits hatte Miguel einige Zeit in Bilbao, im Baskenland, gelebt und gearbeitet. Die soziale, kulturelle und politische Arbeit, die dort von den sogenannten Gaztetxeas (autonome (teils besetzte) Jugend- und Kulturzentren) geleistet wird, beeindruckte ihn. Im Baskenland gibt es in jedem Ort ein solches Zentrum, das unabhängig von offiziellen staatlichen Strukturen das soziale und kulturelle Leben der Einwohner_innen durch freiwillige Arbeit gestaltet. In den Gaztetxeas finden sich die jungen Menschen des Ortes zusammen um Konzerte, Info-Veranstaltungen, Workshops, Sprachkurse, Theatergruppen, Ausflüge etc. zu organisieren. All diese Aktivitäten sind mit dem sogenannten herri-mugimendua (der linken Unabhängigkeitsbewegung) verbunden.
Eine Gaztetxea in Kuba?
Wie versucht Miguel Angel also diese für das Baskenland typische Organisationsform auf die kubanische Realität zu übertragen? Sicherlich nicht ohne Anpassungen, meint er lachend. Ähnlich ist die Idee eine Begegnungsstätte zu schaffen, in der Menschen für Menschen Aktivitäten organisieren, die sich auf die heimische Kultur und Tradition beziehen. Der Ausgangspunkt sei in Kuba jedoch ein völlig anderer als im Baskenland.
Das, was ihn im Baskenland so fasziniert habe, sei das Bewusstsein der Menschen über ihre aktive Rolle, die sie als Bewohner_innen eines Ortes einnehmen können (und, um etwas zu bewegen, müssen). Die soziale Aktivität, die sich in den Gaztetxeas ergibt, finde ihren Nährboden in einer Unzufriedenheit mit dem bestehenden System bzw. in dem unzureichenden sozialen und kulturellen Angebot, das von offiziellen Strukturen gestellt wird. Es bestehe das Bewusstsein, dass das eigene Anpacken notwendig sei, um die gewünschten sozialen Bedingungen zu schaffen, erklärt Miguel. Dabei ist es ganz egal, ob es sich um das Organisieren eines feministischen Selbstverteidigungskurses, das Konstruieren einer freizugänglichen Kletterwand oder das Reparieren des kaputten Fußweges handelt. Das Erkennen, Erarbeiten und Umsetzen von Bedürfnissen der Bewohner_innen findet im Baskenland größtenteils auf selbstorganisierter Basis statt. Teils funktionieren die Strukturen der Gaztetxeas so gut und finden in der Bevölkerung so großen Anklang, dass Bügermeister_innen sich mit dem Projekten zu verbünden versuchen, Gelder und teils sogar Häuser bereit stellen.
Miguel schildert die Situation in Kuba wie folgt: Trotz der vielfältigen und tiefverwurzelten kubanischen Kultur, sind die Einflüsse von moderner (oft US-amerikanischer) Kultur so groß, dass ein Bewusstsein für die Reichhaltigkeit der eigenen traditionellen Kultur verloren geht. Das Bewusstsein, dass man als aktiver Bewohner oder aktive Bewohnerin Einfluss auf das eigene Umfeld haben kann, sich nachbarschaftlich organisieren kann und so Traditionen aufrecht erhalten kann, sei hier weniger tief verwurzelt, als im Baskenland. Miguel erklärt dies durch mehr Vertrauen in den sozialistischen Staat. Wenn der Fußweg kaputt ist, solle der Staat sich darum kümmern; wenn in der Nachbarschaft Interesse an einer Kletterwand oder einem Selbstverteidigungskurs bestehe, sollen die Gelder dafür vom Staat kommen.
Ich selber fragte mich während und nach meines Besuches: Kann und sollte man das von einem sozialistischen Staat erwarten? Gelder, ja. Aber die Initiative?
Woher kommt die Initiative der vielen hundert jungen Menschen im Baskenland, die sich in den Gaztetxeas organisieren? Würde die Initiative nach der sozialistischen Revolution nachlassen, weil sich dann auf dem Staat „ausgeruht“ werden kann? Handelt es sich bei dem Engagement um eine kollektive Kraft, die aufgrund eines gemeinsamen Feindes, dem repressiven Staat, besteht?
Wie ändert sich eine Gesellschaft oder ein gesellschaftlicher Kampf, wenn der Staat auf einmal wirklich in Funktion des Volkes steht? Welches Bewusstsein ist nötig, um eine Motivation für kollektives Engagement zu schaffen, die nicht von einem gemeinsamen Feind herrührt, sondern von der Einsicht in einem sozialistischen Staat zu leben, der wirklich für die Interessen der Mehrheit der Menschen einsteht?
Das wichtige ist: Ein Bewusstsein schaffen, dass selbstorganisierte Anstrengung und Engagement nicht ausschließlich aus der Unzufriedenheit mit den bestehenden Strukturen kommen müssen, sondern nachbarschaftliches Engagement als ergänzend zu staatlichen Strukturen in einem sozialistischen Staat zu verstehen ist. Im besten Fall arbeiten sich staatliche und nachbarschaftliche Strukturen zu.
Das Proyecto Ventana al Valle ist ein Paradebeispiel hierfür. Mein Besuch hat mir gezeigt: Miguel und seine Familie, die Verfechter der kubanischen Revolution sind, sehen in der aktiven Partizipation der Bewohner_innen den Schlüssel zum Erfolg und werden dabei von der Stadt unterstützt. Der Anklang, den das Projekt in der Comunidad und im internationalen Umfeld findet, sind groß.
Ein Besuch lohnt sich!