Ein, zwei, drei – viele Feuer breiten sich aus in der Stadt. An jeder brennenden Fackel werden weitere entzündet. Wir stehen am obersten Absatz der prachtvollen Treppe der Universität Havannas. Die Vielzahl an Menschen, welche sich die Treppe hinab, vorbei an der „Alma Mater“ und hinein in die Gassen Havannas schlängelt, gleicht einem einzigen autarken Organismus. Rauch steigt von den unzähligen Fackeln der Einzelnen innerhalb der Masse auf, ein in jederlei Hinsicht atemberaubendes Szenario. Plötzlich beginnt sich die Masse zu bewegen!
Wir tauchen in ihr ein, gehen in ihr unter, werden Teil von ihr. An jeder Straßenecke sind große Lautsprecher installiert, durch welche immer und immer wieder an den historischen Ursprung der Veranstaltung erinnert wird. Es ist der 27. Januar – der Abend vor dem Geburtstag des Nationalhelden José Martís.
1953 versammelten sich zum ersten Mal Studenten der Universität Havannas zu einem Fackelmarsch zu Ehren Martís, sowie seiner Ideen. Seit 1959, dem Jahr der Befreiung Kubas von der Diktatur Batistas, wurde vor allem die Jugend jedes Jahr von Fidel Castro persönlich dazu aufgerufen, sich an dem Marsch zu beteiligen. Neben der Anerkennung gegenüber den Bestrebungen Martís werden seitdem zusätzlich die Revolution – mitsamt ihren Errungenschaften – geehrt.
Der Marsch vergeht wie im Fluge und auf einmal bemerke ich, dass wir den Malecón erreicht haben. Die Menschen beginnen sich in mehr oder weniger kleinen Grüppchen auf den Nachhauseweg zu machen. Etwas perplex lasse ich die letzte halbe Stunde Revue passieren. Was für eine unfassbare Energie das gerade war! Vor meiner Abreise nach Kuba hörte ich öfters von wiedergekehrten Touristen, dass gerade die Jugend „die Schnauze voll von dem Ganzen“ hat. Wenn die wüssten, denke ich, während Woge für Woge im Takt der an den Malecón schlagenden Wellen die Menschen an mir vorüberziehen.
Ich habe mit den Menschen gesprochen. Nicht nur mit denen, die eine Fahne in der Hand hielten oder offensichtlich zum Kreis der Organisatoren gehören. Jeder Teilnehmer konnte mir versichern, dass von den Menschen, die sich hier heute versammelt haben, niemand gezwungen gewesen war sich anzuschließen. Es gab keine Anwesenheitskontrollen oder Repressionen gegenüber Nichtinteressierten. Die Männer und Frauen, die Kinder und Großeltern, aber vor allem die Jugendlichen, welche den mit Abstand größten Teil der Masse ausmachen, sind aus freien Stücken hier hergekommen.
Nach einer abenteuerlichen Rückreise, zusammen mit tausenden von Kubanern, überfüllten Bussen und kollektiven Taxis, sitze ich mit einem Bier in der Hand an meinem Küchentisch und lassen den Abend ausklingen. Auch ich habe von vielen Kubanern in meinem Alter den Wunsch nach mehr materiellen Gütern und damit verbundenen Veränderungen vernommen.
Trotzdem laufen jedes Jahr aufs neue Studenten aller Universitäten mit Fackeln durch die Stadt. Nicht jedoch um dem Sozialismus abzudanken, Schaufenster einzuschmeißen und das Zentralkomitee der kommunistischen Partei in Brand zu stecken, wie man nun vermuten könnte. Nein, die Jugend marschiert durch die Straßen um die Errungenschaften ihrer Revolution zu verteidigen. Genau dieser Spagat zwischen dem Wunsch nach Veränderung und der gleichzeitigen Erhaltung sozialistischer Werte ist für mich während des gesamten Fackelmarsches präsent.
Während ich noch den Abwasch erledige und das leere Bier wegstelle frage ich mich, warum wir in Deutschland nicht jedes Jahr auf die Straße gehen um die Errungenschaften der Demokratie hochzuhalten. Sind wir uns dieser nicht bewusst?, Sind wir politisch uninteressierter als die Kubaner?, oder gibt es vielleicht doch einen anderen Grund für unsere Zurückhaltung?