Lernen in der Lunge Havannas
Zur Vorbereitung auf die Kurse, die wir an der technischen Hochschule von Havanna (Cujae) besuchen, haben wir zu Beginn des Semesters einen Spanischkurs absolviert. Dieser Kurs fand an der Fakultät für Fremdsprachen der pädagogischen Universität Varona statt, die auf dem Gelände der Ciudad Escolar Libertad, einer Schulstadt im Westen Havannas liegt. Betritt man das 2,6km2 große Gelände durch eines der verschiedenen Eingangstore taucht man in eine andere Welt ein.
Man findet sich in einer grünen Oase wieder und die lärmenden Straßen der Großstadt erscheinen auf einmal sehr weit weg. Nur auf einigen Wegen fahren hier vereinzelt Autos. Wegen ihrer vielen bewaldeten und Grünflächen wird die Ciudad Libertad auch als Lunge Havannas bezeichnet. Auf dem Gelände gibt es unter anderem mehrere Kindergärten, Grund-, weiterführende und Förderschulen, eine Universität und weitere Einrichtungen wie Bibliotheken, Theater oder Sportplätze aber auch eine Zahnklinik und ein paar Wohnhäuser. Theoretisch kann ein Kind hier bereits im Alter von wenigen Monaten den Kindergarten besuchen und seine Ausbildung mehr als 20 Jahre später mit verschiedenen akademischen Abschlüssen und einem Doktortitel abschließen, ohne dass es dafür jemals das Gelände verlassen musste. Nachdem ich sehr lange darüber gestaunt habe frage ich mich: Wie ist die Ciudad Libertad entstanden und gibt es in Kuba noch weitere Einrichtungen dieser Art?
Das Campamento de Columbia
1898 errichteten die USA auf dem Gelände, auf dem sich heute die Ciudad Libertad befindet, ein Militärquartier in dem Soldaten zur Kontrolle der kubanischen Provinzen Pinar del Río und La Habana stationiert wurden. Den Namen Campamento de Columbia erhielt das Lager, weil die an der Erbauung beteiligten US-Soldaten größtenteils aus dem District of Columbia stammten. Zu beginn des 20. Jahrhunderts war das Gelände abwechselnd unter kubanischer und US-amerikanischer Kontrolle. In Zeiten politischer Instabilität und teilweise im Stundentakt wechselnder Präsidenten hieß es, wer das Campamento de Columbia kontrolliere, der könne das ganze Land führen. Im März 1952 nahm Fulgencio Batista Columbia in einem Militärputsch ein. Er ersetzte die im vorherigen Jahrhundert errichteten einfachen Holzbaracken durch solidere Gebäude und veranlasste weitere Modernisierungsmaßnahmen. In den folgenden Jahren wurde die Kaserne zum Schauplatz zahlloser Folterungen und zum Symbol der Unterdrückung und der Grausamkeit, die das kubanische Volk durch das Batista-Regime erfahren hat.
Von der Kaserne zur Schule
„Aber wenn die Soldaten das Volk unterdrücken und ermorden, die Nation betrügen und nur die Interessen einer kleinen Gruppe verteidigen, dann verdient die Armee nicht einen Cent vom Geld der Republik, und das Lager Columbia sollte umgewandelt werden in eine Schule mit zehntausenden Waisenkindern, die dort anstatt der Soldaten eine Unterkunft finden könnten.“
Das erklärte Fidel Castro in seiner berühmten Verteidigungsrede „Die Geschichte wird mich freisprechen“* in dem Prozess, der ihm im Jahr 1953 nach dem gescheiterten Sturm auf die Moncada-Kaserne gemacht wurde. Zu dieser Zeit konnte beinahe ein Viertel der kubanischen Bevölkerung nicht lesen und schreiben und besonders in ländlichen Regionen gab es oft keinen Zugang zu Bildung. Der kubanische Philosoph, Freiheitskämpfer und Nationalheld José Martí beschrieb Bildung als den Schlüssel des Volkes zur Freiheit. In seiner Tradition spielte Bildung eine zentrale Rolle in den politischen Plänen Fidel Castros und der von ihm angeführten Bewegung des 26. Juli.
Etwa fünf Jahre später siegte die kubanische Revolution. Am 2. Januar 1959 nahm der Kommandant Camilo Cienfuegos mit seiner Kolonne das Cuartel Columbia ein und ließ sich mit der Jefatura del Ejército Rebelde, der Leitung der Rebellenarmee, im ehemaligen Hauptquartier Batistas nieder. Am 10. März 1959 riss er in einem symbolischen Akt einen der Kontrollpunkte ein und gab damit den Startschuss zum Umbau des Geländes, das im September des selben Jahres an den Bildungsminister Armando Hart übergeben wurde. Im August 1960 wurde die „Ciudad Escolar Libertad“ nach etwa eineinhalb Jahren Renovierungs- und Umbauarbeiten feierlich eröffnet und etwa 40 000 Schüler- und StudentInnen zogen in die neuen Klassen- und Vorlesungsräume ein. In den 1960er Jahren hatten unter anderem das Bildungsministerium und die Verwaltung der landesweiten Alphabetisierungskampagne ihren Sitz in der Ciudad Libertad.
Columbia war die erste Kaserne, die nach dem Sieg der Revolution in eine Bildungseinrichtung verwandelt wurde. Nach und nach wurden im ganzen Land noch 69 weitere Kasernen, die sich auf Stadtgebiet oder in unmittelbarer Stadtnähe befanden, je nach Größe zu Schulen, Universitäten oder Schulstädten umgebaut. Die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba ist wohl eine der bekanntesten. Sie beherbergt seit 1960 die nach der Bewegung des 26. Juli benannte Ciudad Escolar 26 de Julio, die ähnlich aufgebaut ist wie die Ciudad Libertad.
Das kubanische Integrationskonzept wird an diesen Orten par excellence umgesetzt. Körperlich oder geistig beeinträchtigte Kinder werden in Kuba nach Möglichkeit in der Schule integriert und ihren Bedürfnissen entsprechend unterstützt und besuchen nur dann Sonderschulen, wenn eine ausreichende Betreuung sonst nicht möglich wäre. In den Schulstädten stehen diese Sonderschulen Seite an Seite mit den anderen Einrichtungen und teilen sich zum Beispiel den Pausenhof, sodass dennoch alle Kinder gemeinsam aufwachsen und keiner an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird. Auch die finanzielle Situation der Eltern oder etwa die Herkunft sollen keine Hindernisse darstellen – denn das Recht auf eine kostenlose und umfassende Bildung bis zum Hochschulabschluss gilt in Kuba ausnahmslos für alle.
Rauf mit der Bildung, runter mit der Rüstung
Der kleine, wirtschaftlich schwache Karibikstaat investiert etwas mehr als 12% seines Bruttoinlandsprodukts in Bildung. Das entspricht beinahe dem Viereinhalbfachen der Ausgaben für Rüstung, ein auf dieser Welt fast einzigartiges Verhältnis. Es ist das Ergebnis der Kombination der martianischen Idee, dass es wichtig ist sein Volk zu bilden da nur ein gebildetes Volk auch ein frei sein kann, und dem Plan, den Militärapparat und die damit verbundenen Ausgaben auf ein Mindestmaß zu verkleinern. In Deutschland übersteigen die Ausgaben im Bildungssektor wie in den meisten europäischen Industrieländern zwar auch diejenigen für Rüstung, ihr Anteil am BIP liegt aber nur knapp über 5%.
Wenn ich durch die Ciudad Libertad spaziere bin ich nach wie vor fasziniert von der vom Wissensdurst geprägten Atmosphäre und dem solidarischen Miteinander, das hier gepflegt wird und wünsche mir, ich könnte auch in Deutschland an so einem Ort lernen.
2008 wurde der gesamte Komplex der Ciudad Libertad aufgrund seiner historischen Bedeutung und als Symbol für die Errungenschaften der kubanischen Revolution und ihres Bildungssystems zum Monumento Nacional, Nationaldenkmal, erklärt.
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* Die Verteidigungsrede (im spanischen Original „La historia me absolverá“) wird auch als Moncada-Programm bezeichnet. In seiner Rede zeigte Fidel Castro die Missstände auf, die in Cuba herrschten und präsentierte seine politischen Pläne. Die zentralen Punkte sind neben dem Thema Bildung eine ausführliche Land- und Agrarreform und die Weiterentwicklung der Industrie.
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