Nach einer Nacht ohne Schlaf gehts für uns direkt zur 1. Mai-Demo in Havanna. Die erste, die seit Beginn der Corona-Pandemie stattfindet. Neben hunderttausenden Mitdemonstrierenden sind auch der Präsident von Kuba, Miguel Diaz-Canel Bermúdez, und General Raúl Castro Ruz dabei.
Wir kommen um Mitternacht an der CUJAE, der polytechnischen Universität in Havanna, an. Die Studierenden haben sich hier schon versammelt und sind voll in Partystimmung: Es wird ausgiebig getanzt, gelacht und gefeiert. Wir hingegen schleppen erschöpft unsere Koffer in die Unterkunft. Wir haben über zehn Stunden Rückreise von der Isla de la Juventud hinter uns. Zum Ausruhen ist keine Zeit. Um eins gibts noch ein flottes Frühstück und dann gehts ab zum Bus. Die Studierenden haben sich schon zusammengefunden, um von der CUJAE, die etwas außerhalb liegt, Richtung Stadtzentrum zu fahren. Dass wir in den richtigen Bus einsteigen, ist zu großen Teilen Juan José vom kubanischen Studierendenverband FEU,zu verdanken. Er nimmt uns an diesem 1. Mai etwas an die Hand. Es ist drei Uhr, als wir in Havannas Botschaftsviertel ankommen, von wo aus die Demo um sieben Uhr starten soll. Wir sind so erschöpft, dass wir vor der britischen Botschaft eine kleine Siesta auf unserem Banner einlegen. Nicht nur wir machen ein Nickerchen, um uns legen sich viele Leute schlafen. Aus unseren süßen Träumen werden wir gerissen, als Juan José uns zusammentrommelt, um uns für die Demo aufzustellen. Zeitgleich mit dem Sonnenaufgang setzt sich die Menge in Bewegung. Endlich kann die weltweit größte 1. Mai-Demonstration nach einer dreijährigen Pause beginnen. Wir laufen im Jugendblock u. a. gemeinsam mit Studierenden der UCI (Universidad de las ciencias informáticas) und der UJC.
Zum ersten Mal wird uns die Größe der Demo wirklich bewusst: In Sichtweite des Monumento José Martí ist eine kleine Anhöhe, von der aus man den Zug besser erkennen kann. Rund 700.000 Frauen, Männer, Kinder, alte und junge Menschen laufen über die Avenida Paseo zur Plaza de la Revolución. Das Meer an Kubaflaggen, Transpis und Schildern ist überwältigend.
Egal ob Ärzt*innen in Kitteln, Arbeiter*innen in Blaumännern oder die Student*innen in CUJAE-Shirts – ein Gefühl von Euphorie macht sich breit und schwappt auf uns über. Die Müdigkeit ist vergessen. Auf dem Platz der Revolution angekommen, laufen wir an der Tribüne vorbei, von der uns internationale Delegierte aus 60 Nationen zujubeln. Unter dem wachenden Blick der riesigen Statue von José Martí, stehen Raúl Castro Ruz und Miguel Díaz-Canel Bermúdez. In Uniform salutiert Raúl und es scheint fast, als würde er uns persönlich meinen – das denken sicher nicht nur wir.
Ständige Begleiter der Masse sind die Fernsehkameras und Drohnen, die die Demo aufnehmen und live übertragen. Später schauen wir uns Ausschnitte aus dem nationalen Fernsehen an. Die Übertragung des Marsches in Havanna wird immer wieder von Bildern aus ganz Kuba unterbrochen. Aus Santiago de Cuba, Camagüey und auch aus Nueva Gerona kommen Beiträge. Fünf Millionen Menschen sind landesweit mitgelaufen. Das sind Zahlen, die denen vor der Corona-Krise gleichen.
Zurück zur Demo vor Ort: Aus den Lautsprechern am Straßenrand wird die Demo moderiert und immer wieder ist das diesjährige Motto “Cuba vive y trabaja“ (Kuba lebt und arbeitet) zu hören. Das Motto ist gewählt, um die Stärke Kubas zu unterstreichen und hat u. a. mit dem „Halszuschnüren“ der Yankees in der Pandemiezeit zu tun. Es zeigt einmal, dass Kuba lebt, und zwar stolz und fröhlich, und gleichzeitig in harter Arbeit gegen die Blockade kämpft.
Hinter der Tribüne angekommen, löst sich die Masse langsam auf. Juan José führt uns wieder zu unserem Bus, steigt aber selbst nicht ein. Er muss noch andere Studierende koordinieren. Um elf Uhr kommen wir wieder an der CUJAE an. Endlich können wir schlafen. Uns geht es wie Raúl. Er sagte am Ende der Demo: “Tengo el corazón lleno de alegría.” Mein Herz ist voller Freude.