Wie auch schon vorherige Proyecto-Gruppen hatten Ende Januar auch einige Teilnehmerinnen unserer Gruppe das Glück, mit dem movimiento de excursionismo cubano auf Exkursion gehen zu können. Mit einer ca. 50 Personen starken Gruppe von Studierenden der CUJAE und der Universität de La Habana (UH) machten wir uns auf den Weg gen Süden des Landes. Unser Ziel sollte der höchste Berg Kubas, der pico Turquino, sein, der sich im sogenannten oriente (Osten des Landes) befindet.
Eingedeckt mit Proviant, aufgeregten Kubaner*innen, die große Vorfreude auf diese Reise mit dem neuen tren chino -dem chinesischen Zug- hatten und den elementaren Rhythmen, von denen man in Kuba stets begleitet wird, begaben wir uns auf die 16-stündige Zugfahrt. Von unserem Ziel Bayamo wurden wir dann mit einem camión zum nächsten camión gekarrt, der uns dann zum ersten campamento brachte. Sowohl die Reisen mit den camiónes als auch die Zugreise -vor und nach der Nachtruhe- waren ausgelassen, und so wurde mit dem brüllenden Motor um die Wette gejauchzt. Vom klassischen Reaggeaton „me vooooooy pa‘ mi casaaa“, über die Beatles und allerhand Rockklassiker bis hin zu Rammstein „Du hast, du hast mich“ war einiges dabei. Die vibrierende kubanische Lebensfreude räumte in kürzester Zeit jegliche Zögerlichkeit und Zurückhaltung aus dem Weg und das ganz ohne Rauschmittel.
Für mich war die Exkursion ein Moment soziologischer Erkenntnis, wie ich sie in Kuba öfters habe. Bereits vor der Abfahrt fiel mir der Unterschied in der Organisation der Exkursion auf. Als wir dann von verschiedenen Seiten um Rucksäcke gebeten wurden, war ich kurz verwundert. Erst im Nachhinein wurde mir klar, warum. Meines Erlebens nach ist es bei uns eher unüblich, Freizeitangebote in Anspruch zu nehmen, für die man materiell und physisch nicht „qualifiziert“ ist. Erfüllt man entweder die physischen oder materiellen Bedingungen nicht, disqualifiziert man sich meist selbst. Aus Scham, aus Stolz, weil man‘s nicht kann. So kreiert sich eine relativ spezifische und elitäre Kultur um gewisse Freizeitaktivitäten. Das fällt mir in Europa bereits beim einfachen Joggen auf, wo die Leute ausgerüstet sind, als trainierten sie für die Olympischen Spiele, beim Wandern ist es auch nicht besser, von den Wintersportarten will ich gar nicht erst sprechen. Tatsächlich erlegt uns die Konsumgesellschaft ein Konsumverhalten auf, dem sehr viele von uns überhaupt nicht mehr oder zumindest stellenweise nicht mehr gewachsen sind. Die logische Schlussfolgerung in Europa ist dann meist ein Einstellen dieser Aktivitäten. Man will ja auch nicht blöd dastehen. Dass es eigentlich auch anders gehen würde, wurde mir auf dieser Exkursion auf sehr imposante Weise vor Augen geführt. In Kuba gibt es dieses Freizeit-Wettrüsten nämlich nicht, wer Lust auf die Exkursion hat, kommt mit. Auch wenn das bedeutet, dass man eben mit seinen Vans oder sonst irgendwelchen normalen Straßenschuhen, Jeans und einem normalen Unirucksack den höchsten Berg Kubas besteigt (1974m). Sogar ein paar Kilos mehr darf man haben und man muss auch kein*e Top-sportler*in sein, der*die den Berg in Rekordtempo hochläuft. Das war für mich sehr beeindruckend und hat auch dazu geführt, dass ich mit dem 30 Jahre alten pink-blauen Invicta Rucksack meiner Eltern und meinen Wandersandalen zu den mit am besten ausgestatteten Personen der Exkursion zählte. Ganz klar ein Moment, das mir meine europäische Realität, mein dortiges Erleben entschlüsselte und mich gleichzeitig mit unendlicher Distanz und Fremdheit darauf blicken ließ. Ein Moment, in dem ich den Reichtum kubanischer Gesellschaftskultur, Solidarität und Zugänglichkeit und dessen Spuren in mir und den Menschen in meinem Umfeld klar erkannte.
Es hat mir wieder aufgezeigt, wie die Mechanismen des Kapitalismus in uns schalten und walten. Wie wir aufgrund des sozialen Drucks zu schamlos sich abarbeitenden Arbeitstieren mutieren, um irgendwann ein Zugehörigkeitsgefühl zu erreichen, das wir so sehr bräuchten. Dazugehören bedeutet oft, über gewisse materielle Mittel, Fähigkeiten und Möglichkeiten zu verfügen. Dies kreiert eine Kultur der Exklusion, eine Kultur des Drucks, der Leere und Vereinsamung. Es macht uns zu Einzelkämpfer*innen, die sich in ihrem Umfeld nicht eingebettet und aufgehoben fühlen, es lässt unseren Sympathikus nicht zur Ruhe kommen, macht uns krank, ausgelaugt und unglücklich.
Die Hingabe, die ich im gemeinsamen Umgang in Kuba oft spüre, dieses Einheitsgefühl ohne Klüfte, ohne Vorbehalte, waren omnipräsente Elemente dieses Ausflugs in die Sierra Maestra. Es war klar, wir waren auf gemeinsamer Mission, wir kümmern uns umeinander und nach der Exkursion würden sich unsere Wege nicht einfach wieder trennen oder in einem zurückhaltenden Gruß enden. Die Fähigkeit der Kubaner*innen sich zu vernetzen, ihre eigenen sozialen Bedürfnisse zu befriedigen, bringen mich immer wieder zum Staunen. Während in Europa Ministerien gegen Einsamkeit gegründet werden müssen, um die Bevölkerung vor struktureller Vereinsamung zu retten, floriert das soziale Leben auf Kuba. In solchen Momenten wird mir persönlich klar, dass all das, was wir haben, um soziale und emotionale Bedürfnisse zu kompensieren, uns nie befriedigen kann. Unsere großen Häuser, Monolokale und WG-Zimmer sind mit Stille gefüllt, weil sich sonst noch unsere Nachbar*innen aufregen, der Medienkonsum hat beunruhigende Ausmaße angenommen und allerhand verschiedene Apps helfen uns zwar bei der Alltagsbewältigung, gleichzeitig verhindern sie aber ein natürliches In-Kontakt-Treten mit unseren Mitmenschen. Unsere Freund*innen und Familienmitglieder haben genauso wenig Zeit für uns, wie wir für sie. Alte Menschen werden zwar physisch versorgt, sozial müssen sie aber selbst schauen, wie sie Wärme und Kontakte in ihren Leben aufrechterhalten.
In diesen Gedankenprozessen komme ich immer wieder an den Punkt, an dem sich die Klassifizierungen der Länder in „Entwicklungsländer“ oder „Drittweltländer“ verkehrt anfühlt, in dem sich das arme Kuba in meinem Herzen in ein reiches Kuba verwandelt. Ein Kuba, das aufgrund der völkerrechtswidrigen Blockade und auch eigener Ineffizienz und fehlgeschlagenem Management die materiellen Bedürfnisse seiner Bewohner*innen nur schwer und selten zur Gänze erfüllen kann. Es aber all dem zum Trotz doch ermöglichen kann, glückliche Leben zu bescheren. Oft habe ich im Gespräch den Eindruck, dass manchen Kubaner*innen der Seltenheitswert dieses Umstandes nicht ganz einleuchtet. Nun ist es ist zwar theoretisch jedem klar, dass soziale Bedürfnisse nicht mit materiellen Gütern befriedigt werden können, jedoch habe ich oft den Eindruck, dass diese Erkenntnis in der Praxis noch nicht zur Gänze erlangt worden ist. So hat mir letztens ein Bekannter von uns erzählt, dass er hier zwar glücklich sei, aber, wenn er könnte, würde er trotzdem emigrieren. Solche Momente erfüllen mich oft mit einem gewissen Ohnmachtsgefühl. Denn mir ist klar, dass meine Worte keinen am eigenen Leib erlebten Kulturaustausch ersetzen können. Wenn ich an das Leben denke, welches dieser junge Mann in einem europäischen Land mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wohl führen würde, stimmt mich das traurig. Es ist schwer zu vermitteln, dass die reichen Länder des Westens durch den Werteverlust, den unsere Gesellschaft erfahren hat und immer noch erfährt, möglicherweise einen einsamen und tristen Weg vor sich haben werden.
Was nach solchen Erlebnissen bleibt ist die Hoffnung auf Veränderung und die Dankbarkeit, diese Erfahrungen in Kuba machen zu können. Neben atemberaubenden Ausblicken über die Berglandschaft der Sierra Maestra, einer umwerfenden Flora und Fauna, paradiesischen Lichtungen, einsamen Pfaden, steilen Hängen, kalten Flüssen, tiefblauen Meeresblicken, dem kubanischen Grün und Blau waren Wärme und ein geborgenes Miteinander Wegbegleiter auf den pico. Diese Landschaften, in denen die ersten Schritte der Revolution beschritten wurden, zeigten mir wieder: Eine andere Welt ist möglich. ¡Viva Cuba socialista!
Das ist ein Artikel von Johanna.
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