Kubas Gesundheitssystem ist weltweit berühmt. In den 60 Jahren der Revolution ist es dem sozialistischen Land gelungen, eine der höchsten Ärztedichten weltweit zu erreichen, die Kindersterblichkeit auf das Niveau der sogenannten Industrienationen zu senken und die Lebenserwartung seiner Bevölkerung signifikant zu erhöhen. Kuba hat beeindruckende Forschungsergebnisse im Bereich der Krebstherapie vorzuweisen und entsendet im Sinne des Internationalismus medizinische Brigaden in alle Länder, die Hilfe benötigen.
Als ich auf die Insel reiste, um ein halbes Jahr an der CUJAE zu studieren und am Proyecto Tamara Bunke teilzunehmen, wusste ich um diese Erfolge im Bereich der somatischen Medizin und fragte mich gleichzeitig, wie es um die Versorgung der Bevölkerung bezüglich der psychischen Gesundheit steht. Ist Psychotherapie hier für alle frei zugänglich wie die anderen Leistungen des Gesundheitssystems? Mit welchen Methoden und Konzepten arbeiten die Kolleg*innen? Da ich das Glück hatte, mit einigen Psycholog*innen aus verschiedenen Kontexten hier sprechen zu dürfen, weiß ich nun: Kuba braucht den Vergleich mit dem psychotherapeutisch verhältnismäßig gut versorgten Deutschland keineswegs zu scheuen!
Wie wird man Psycholog*in in Kuba und welche Aufgaben erfüllen Psycholog*innen in der kubanischen Gesellschaft?
Psychologie kann man in Kuba ganz regulär in Vollzeit studieren, es werden aber auch Veranstaltungen für Menschen, die bereits einer beruflichen Tätigkeit nachgehen und sich umschulen lassen möchten, an den Wochenenden angeboten. Die Anzahl der zugelassenen Studienanfänger*innen hängt vom Bedarf der Bevölkerung ab und wird Jahr für Jahr neu festgelegt. Somit wird sichergestellt, dass jede/r Absolvent*in einen Arbeitsplatz erhält und die Versorgung der Bevölkerung gewährleistet ist. Nach dem Grundstudium erfolgt eine Spezialisierung auf klinische, pädagogische, organisatorische oder soziale Psychologie. Während des Studiums absolvieren die Studierenden verschiedene Praktika, um einen vertieften Einblick in ihre spätere Arbeit gewinnen zu können. Die Studierenden der Universität von Havanna veranstalten jedes Jahr eigenverantwortlich einen internationalen Studierendenkongress, an dem sie vier Tage lang eigene Forschungsergebnis präsentieren und den Austausch mit Kolleg*innen suchen.
Die Absolvent*innen des Psychologiestudiums in Kuba arbeiten später in ganz verschiedenen Bereichen: sie forschen an den staatlichen Einrichtungen gemeinsam mit Soziolog*innen zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen, entwickeln Programme zur Gesundheitsförderung, engagieren sich in den zahlreichen Bildungseinrichtungen des Landes oder beraten Institutionen. Fast jede Organisation und jeder Betrieb in Kuba beschäftigt eine eigene Psychologin, die die Mitarbeiter*innen nach humanistischen Kriterien auswählt, die Unternehmungsführung berät und arbeitsbedingte Risikofaktoren untersucht.
Laut Vivian Vega Cruz, der Familientherapeutin und Vizedekanin der psychologischen Fakultät der Universität in Havanna, liegen die derzeitigen Forschungsschwerpunkte der akademischen Psychologie bei den Themen Medienpädagogik, Kommunikation in der Familie, psychische Störungen bei Kindern und den Ursachen und Folgen des demographischen Wandels. Man beobachte z.B., dass es durch die neuen Technologien über Internet und Smartphones weniger direkte Kommunikation in den Familien gebe. Dies sei für Kuba ein ganz neues Phänomen. Früher habe es kaum Möglichkeiten gegeben, beispielsweise exzessiv Videospiele oder Fernsehsendungen zu konsumieren. Durch das Internet gebe es nun einen sehr plötzlichen Anstieg, der zu dementsprechenden Veränderungen in den Familien führe. Diese Entwicklung mit ihren potentiellen Chancen und Risiken werde deshalb genau untersucht.
Psychotherapie in der Praxis
Wer sich für die Spezialisierung in klinischer Psychologie entscheidet, absolviert seinen zweijährigen Arbeitsdienst, den sogenannten servicio social, in einer der klinischen Einrichtungen, beispielsweise in einem der Centros de la Salud Mental (Zentrum für mentale Gesundheit), und behandelt Patient*innen unter der Betreuung von erfahrenen Vorgesetzten. Eine institutionalisierte Psychotherapieweiterbildung wie in Deutschland gibt es nicht. Bei uns müssen Weiterbildungskandidat*innen eine festgelegte Anzahl von Lehrtherapie-, Supervisions- und Seminarstunden absolvieren und privat finanzieren, während sie in vielen Fällen minimale Löhne beziehen. In Kuba wird niemandem der Zugang zu diesem Beruf verwehrt, weil er nicht das nötige Kapital aufbringen kann, jedoch liegt es stärker in der Verantwortung der einzelnen Praktizierenden, die Methoden der Psychotherapie zu erlernen, sich fortzubilden und das eigene Tun immer wieder kritisch zu reflektieren.
Die Gesundheitsversorgung findet in Kuba auf drei Ebenen statt. Die erste Anlaufstelle für alle Patient*innen ist der sogenannte Familienarzt bzw. eine Poliklinik in jeder Gemeinde. Auf der nächsthöheren Ebene befinden sich die Krankenhäuser, an denen sowohl stationäre als auch ambulante Behandlungen stattfinden. Zuletzt sind die spezialisierten Zentren zu nennen, die Patient*innen im Falle komplizierterer Störungsbilder oder Krankheitsverläufe aufsuchen. Auf allen drei Ebenen der Gesundheitsversorgung sind Psycholog*innen tätig und behandeln Patient*innen. Psychotherapie als Heilverfahren ist an das Ministerium für öffentliche Gesundheit MINSAP angegliedert, sie steht allen kostenfrei zur Verfügung. Dies ist besonders hervorzuheben, da in vielen Ländern der Welt, von denen die Mehrzahl ökonomisch deutlich besser dasteht als Kuba, das unter der bis heute andauernden Blockade durch die USA leidet, Psychotherapie von den Patient*innen selbst bezahlt werden muss und keine Leistung der Krankenversicherung darstellt. In Deutschland ist dies glücklicherweise der Fall, jedoch auch mit Einschränkungen verbunden, wie weiter unten deutlich werden wird.
Wie auch im Fall körperlicher Erkrankungen legt Kuba den Fokus auf die Prävention psychischer Störungen und die Gesundheitsförderung. In den Gemeinden gibt es dazu niedrigschwellige Angebote, die sogar Hausbesuche einschließen. Da sich psychisch Erkrankte oft ihrer Symptome schämen oder ihnen der Antrieb fehlt, um eine Behandlung in Anspruch zu nehmen, ist dies eine sinnvolle Maßnahme. Psychologische Beratung und Psychotherapie werden außerdem in zahlreichen sozialen Einrichtungen, wie z.B. in Altenheimen und den Casas de la Mujer y la Familia (Frauenbildungs- und Beratungszentren), angeboten. Auch die Casa Comunitarias (Gemeindezentren) arbeiten in diesem Sinne. Sie bieten in den Gemeinden kreative Kurse oder Veranstaltungen zur Suchtprävention an.
Laut Vivian Vega Cruz sei eine psychische Erkrankung früher wie ein Stigma gewesen, weshalb auch die Psychotherapie verpönt gewesen sei. Dies habe sich durch eine verbesserte Aufklärung deutlich verändert. Das Thema mentale Gesundheit ist in der Öffentlichkeit sehr präsent, z.B. hat der kubanische Psychologe und Autor des Buches „Descubriendo la Psicologia“ („Die Psychologie entdecken“) Dr. Manuel Calviño eine eigene TV-Sendung, jede*r kann in jeder beliebigen Buchhandlung Selbsthilfe- und Fachbücher zu unglaublich geringen Preisen kaufen und in der Tagespresse werden ebenfalls immer wieder Artikel hierzu veröffentlicht.
Wer in Kuba unter einer psychischen Erkrankung leidet, sucht seine Familienärztin auf und lässt sich an eine Psychotherapeutin überweisen. Diese führt die Diagnostik durch und entscheidet gemeinsam mit der Patientin über die Behandlungsoptionen. Sofern eine Psychotherapie notwendig ist, kann diese direkt im Anschluss begonnen werden. In Deutschland müssen Patient*innen häufig mehrere Monate auf einen freien Therapieplatz warten, was die Symptomatik nicht selten verschlimmert, zu Beziehungskonflikten oder drohendem Arbeitsplatzverlust führt und stationäre Behandlungen nötig macht.
Während in Deutschland von den Krankenkassen bisher lediglich drei psycho-therapeutische Verfahren bezahlt werden, so dass die systemische und die humanistische Psychotherapie noch nicht von Kassenpatient*innen in Anspruch genommen werden können, haben diese in Kuba einen festen Platz in der Gesundheitsversorgung. Während des Studiums werden die fünf bekanntesten Verfahren (Verhaltenstherapie, psychodynamische und psychoanalytische Psychotherapie, humanistische und systemische Psychotherapie) gleichermaßen gelehrt. Auch dies ist in Deutschland anders: die verschiedenen Verfahren konkurrieren oftmals miteinander um Ressourcen und Einfluss. Nahezu alle Lehrstühle der klinischen Psychologie sind von Vertreter*innen der Verhaltenstherapie besetzt, so dass Studierende mancher Universitäten fast ausschließliche dieses Verfahren kennenlernen. Die Verhaltenstherapie ist gut erforscht und zeigt eine hohe Wirksamkeit in relativ kurzen Zeiträumen. Aus diesem Grund wird sie weltweit von Gesundheitsökonomen als kostengünstigste Behandlungsmöglichkeit favorisiert. Da jedoch nicht alle Patient*innen von der Verhaltenstherapie profitieren können, kämpfen Psychotherapeut*innen im Sinne der Verfahrensvielfalt auf der ganzen Welt um den Erhalt ihrer jeweiligen Therapieschule. In Kuba hat sich dagegen ein reger Dialog zwischen den verschiedenen Verfahren entwickelt, so dass diese voneinander lernen und gemeinsam am Ziel einer vielfältigen und kompetenten Versorgung psychisch Erkrankter arbeiten. Dementsprechend lernen die Studierenden während ihrer Ausbildung alle Verfahren kennen und entscheiden dann am Ende ihres Studiums, welches sie zukünftig anwenden möchten.
Stationäre Krankenbehandlungen finden in den Psychiatrien des Landes statt. In jeder Provinzhauptstadt gibt es eine psychiatrische Klinik, für seltenere Erkrankungen werden in Havanna Behandlungsmöglichkeiten einschließlich günstiger Unterbringungsmöglichkeiten für die begleitenden Angehörigen vorgehalten.
Ambulante Psychotherapie wird in Kuba nicht in privaten Praxen sondern in den verschiedenen gemeindenahen Gesundheitszentren durchgeführt. Patient*innen durchlaufen hier die Diagnostik und erhalten eine Behandlung, die in meist wöchentlicher Frequenz stattfindet. Einzel- und Gruppentherapie sind gleichermaßen vertreten, während in Deutschland die überaus wirksame Gruppenpsychotherapie leider immer noch eher die Ausnahme in der ambulanten Versorgung darstellt.
Besonders außergewöhnlich ist, dass es in Kuba keine Begrenzung des Stundenkontingents gibt. Dies bedeutet, das Psychotherapeut*in und Patient*in gemeinsam darüber entscheiden, wie lang die Behandlung fortgesetzt werden soll. In Deutschland beginnt dagegen jede Behandlung mit einer Beantragung der benötigten Stunden bei der Krankenkasse. Psychotherapien in Deutschland dauern zwischen 12 und 60 Stunden, was bei wöchentlicher Frequenz einen Behandlungszeitraum von etwa eineinhalb Jahren bedeutet. In besonders zu begründenden Fällen kann die Psychotherapie auf 100 Stunden verlängert werden. Damit steht Deutschland im internationalen Vergleich sehr gut da: in vielen Ländern stellt Psychotherapie überhaupt keine Krankenkassenleistung dar und muss privat finanziert werden oder die Stundenkontingente sind so gering, dass damit allenfalls sehr leichte Erkrankungen behandelt werden können. In den USA beispielsweise sind Psychotherapien von fünf Stunden Dauer keine Seltenheit, was der Schwere des Leidens und dem Chronifizierungsgrad vieler Erkrankungen nicht gerecht werden kann. Psychotherapie gründet sich in ihrer Wirksamkeit unabhängig vom angewandten Verfahren auf der sich entwickelnden Beziehung zwischen Patient*in und Psychotherapeut*in. Dass diese sich erst mit der Zeit vertiefen kann, um eine nachhaltige Verbesserung für die Patientin oder den Patienten zu erreichen, ist bekannt und spiegelt sich in der Gestaltung der Rahmenbedingungen des kubanischen Gesundheitssystem wieder. So sind hier auch psychoanalytische Behandlungen, die sehr große Stundenkontingente benötigen, möglich, wenn auch viele Patient*innen in Kuba kürzere Behandlungen bevorzugen.
Sicherlich ist die Versorgung der kubanischen Bevölkerung bezüglich der psychischen Gesundheit keineswegs perfekt. Verglichen mit dem ökonomisch starken Deutschland, das sein Gesundheitssystem zum großen Teil privatisiert und dem Primat der Gewinnmaximierung unterordnet, fallen durchaus auch Nachteile auf. Die Weiterbildung von Psychotherapeut*innen ist deutlich kürzer und somit weniger umfangreich, dafür aber auch kostenlos. Die Bereitschaft der Patient*innen sich auf längerfristige Therapieprozesse einzulassen, scheint eher gering, obwohl das kubanische Gesundheitssystem diese Möglichkeit vorhält. Ein möglicher Grund hierfür könnte im Vorherrschen eines medizinisch-biologisch geprägten Krankheitsmodells liegen, das die Verantwortung für eine Veränderung der Symptomatik beim Behandler sieht. Dieses Phänomen ist keineswegs spezifisch für Kuba sondern in vielen Teilen der Welt anzutreffen. Aufklärungskampagnen darüber, dass psychische Erkrankungen neben biologischen vor allem seelische und soziale Ursachen haben, können zur Veränderung der individuellen Krankheitsmodelle und Behandlungserwartungen führen. Als überaus positiv ist am kubanischen Gesundheitssystem hervorzuheben, dass die verschiedenen Therapieschulen hier nicht miteinander konkurrieren sondern sich gegenseitig befruchten, es quasi keine Wartezeiten für den Beginn einer Psychotherapie gibt und über die Länge der Behandlung einzig Psychotherapeut*in und Patient*in entscheiden.
Daran wird deutlich, dass für das sozialistische Kuba der Erhalt und die nachhaltige Förderung der psychischen Gesundheit seiner Bevölkerung im Vordergrund stehen. Hier profitiert kein Unternehmen davon, dass Menschen den inhumanen Arbeitsbedingungen des Kapitalismus nicht mehr standhalten können und erkranken. Stattdessen leistet sich das Land trotz überaus knapper Ressourcen eine qualitativ hochwertige und umfassende Versorgung auch im Bereich Psychotherapie.
Dies ist ein Artikel von Corinna