Wanderung durch Marianao
Es ist später Nachmittag in La Habana, der bisherige Tag verlief sehr angenehm und da wir noch relativ neu in der Stadt sind, haben wir beschlossen, zu zweit ein wenig Marianao zu erkunden. Marianao ist das Stadtviertel von La Habana, in welchem wir die nächsten Monate lang leben werden und in welchem sich auch die CUJAE, unsere Universität befindet. Um diese Uhrzeit sind Sonne und Temperatur nicht mehr so drückend wie tagsüber, stattdessen streicht eine angenehme Brise durch die Stadt. Diese Kombination schafft pro Tag etwa zwei bis drei angenehme Abendstunden, bevor die Sonne untergeht.
Da viele Arbeiter*innen, die Studierenden und Schüler*innen bereits Feierabend haben, werden jene Stunden noch einmal intensiv genutzt. Wir kommen an Obst- und Gemüseständen vorbei, die im Begriff sind zu schließen, an Bäckereien, die einen angenehmen Duft versprühen und an kleinen Cafeterien, wo die Leute ein Bier trinken und etwas essen. Die Straßen und Bürgersteige sind voller Menschen. Schulkinder in Schuluniformen kreuzen unseren Weg, Mütter und Väter, die mit ihren Kindern den heimischen Spielplatz aufsuchen, Menschen, die sich an einem der Wifi-Parks mit dem Internet verbinden wollen oder ihre Einkäufe nach Hause tragen. Dazu herrscht Feierabendatmosphäre: Man sitzt gemütlich zusammen und unterhält sich, spielt Domino oder treibt Sport. Im Hintergrund dröhnt der schier ewige Strom aus alten und neuen Lastwagen, vollgestopften Bussen, Taxen und privaten Kraftfahrzeugen, die in Deutschland bereits Oldtimerstatus hätten.
Wir gehen an älteren und neueren Gebäuden vorbei, an bunten und weißen Fassaden, an einer Kirche, an einer Schule und dazwischen immer wieder die Büste José Martís, Zitate der großen Revolutionäre der vergangenen Jahrhunderte oder Zeichnungen an den Wänden, vom Che und anderen bedeutenden Persönlichkeiten Kubas. Während wir als Neuankömmlinge dieses und jenes was uns (noch) fremd erscheint bestaunen und diskutieren, öffnet sich vor uns die Straße und plötzlich stehen wir auf einem öffentlichen Platz. Hinter Sitzmöglichkeiten und einer Bushaltestelle erspähen wir einige Kinder und Jugendliche, welche die angenehmen Temperaturen zum Fußballspielen nutzen. Als große Fußballfans ist natürlich sofort unsere Leidenschaft geweckt…
Die Straßenkinder von Marianao?
Zwei Minuten später stehen wir selbst auf dem Platz. Zusammen mit einem kubanischen Jugendlichen bilden wir ein Dreierteam und spielen gegen drei andere junge Kubaner. „Fußballplatz“ bedeutet in diesem Fall keinesfalls Bolzplatz oder gar Rasenplatz, wie man es aus Deutschland gewohnt ist, stattdessen spielen wir auf einem Basketballfeld, auf Beton. Zwei herangerollte größere Steine dienen als Torpfosten, die Spielfeldbegrenzung wird durch die Betonplatte des Basketballfeldes markiert. Der Ball ist im Aus, wenn er entweder auf der einen Seite von der Platte rollt, oder auf der anderen Seite auf den Rasen geht. Obwohl sehr sporadisch, erfüllt das ganze doch seinen Zweck: Ein kleiner aber feiner Bolzplatz ist entstanden. Fußball hat hier bei weitem nicht den Status und die Möglichkeiten wie Basketball oder Baseball, daher sind die offiziellen Plätze zum Fußballspielen begrenzt. Dennoch erfreut sich der Sport zunehmender Beliebtheit auf Kuba, vor allem bei den Kindern und Jugendlichen. „Unser Nationalsport ist Baseball, doch die Jugend spielt Fußball“, wird mir später einer der Jugendlichen erzählen.
Viele Kubaner spielen Barfuß und auch wir ziehen unsere Schuhe aus, weshalb die ersten Schritte und Ballaktionen unsererseits noch sehr zaghaft sind. Der warme Beton und das schnelle Tempo der Kubaner machen uns und unseren Füßen zu schaffen. Unsere Mitspieler haben eine unheimlich gute Ballkontrolle und besitzen eine filigrane Technik, während unsere Stärken eher im Zweikampf und Passspiel liegen. Während ich dies beobachte kommt mir plötzlich ein seltsamer Gedanke: Jugendliche, die barfuß Tiki-Taka spielen, ein sporadisches Fußballfeld, die Region Lateinamerika, ich weiß nicht warum, doch sofort muss ich an das Klischee des Straßenkindes aus Südamerika denken. Jene Geschichten, die man aus der englischen Premier League oder der spanischen Primera División kennt, von Straßenkindern, die in ärmlichen Verhältnissen leben und dann durch den Fußball im reichen Europa zum gefeierten Star und in ihrer Heimat zu Helden werden. Während ich so in meinen europäischen Denkmustern festhänge, steht es Null zu Eins. Eine schnelle und effektive Körpertäuschung hat ausgereicht, den Ball in unser Tor zu bekommen. Die Menschen, die uns von der Bushaltestelle und den Bänken aus zusehen, lachen freundlich, zu plump war dieser Abwehrversuch unsererseits, zu gekonnt der Spielzug des gegnerischen Teams. Die gute Laune der anderen ist ansteckend, ich nicke meinem Gegenspieler anerkennend zu. auch die Klischees verschwinden aus meinem Kopf. Diese Jugendlichen leben weder ärmlich, noch auf der Straße, denn die Obdachlosigkeit ist in Kuba so gut wie verschwunden, die Ernährung der Menschen ist sichergestellt. Jeder Kubaner kann sich an der örtlichen Bodega für Marken oder darüber hinaus, günstig Nahrungsmittel kaufen. Schuhe und Kleidung sind verhältnismäßig teuer und werden schon von den kleinsten mit Respekt behandelt, daher spielt die Mehrheit hier Barfuß Fußball. Dazu haben die Kinder hier im Gegensatz zu anderen Regionen Lateinamerikas keine allzu schlechte Perspektive: Der Schulbesuch ist Pflicht, die Kinder und Jugendlichen haben unabhängig vom Geldbeutel der Eltern die Möglichkeit zu lernen und können auch höhere Bildungswege anstreben. Sicherlich ist der materielle Wohlstand der Menschen hier nicht mit dem Europas zu vergleichen, doch das rassistische Klischee des ärmlichen Südländers oder gar Straßenkindes ist aus der Luft gegriffen
Wo Fairplay noch selbstverständlich ist
Der frühe Rückstand motiviert uns den Aufwand zu erhöhen und tatsächlich gelingt es uns in der Folgezeit gut gegenzuhalten und selbst spielerische Akzente zu setzten, nur mit dem Ausgleichstreffer will es einfach nichts werden. Doch auch das gegnerische Team hat das Fußballspielen nicht verlernt und so entsteht ein offener Schlagabtausch zwischen beiden Teams, mit feiner Technik, Pass-Stafetten und guter Abwehrarbeit. Bei einer dieser Aktionen rasseln zwei Spieler versehentlich gegeneinander, ein klares Foulspiel. Doch anstatt böser Worte wird die Hand gereicht und weitergespielt. Mir fällt auf, dass die gegnerische Mannschaft einen sehr fairen Fußball spielen. Man geht nicht sonderlich risikoreich oder gar rücksichtlos in die Zweikämpfe, schließlich wird Barfuß gespielt und eine Verletzung möchte hier keiner riskieren. Stattdessen versucht man den Gegenspieler kunstvoll zu umdribbeln. Die seltenen Foulspiele werden in der Regel auch sofort von allen Beteiligten eingesehen, einen Schiedsrichter braucht diese Partie nicht. Falls sich ein übermotivierter Spieler über ein Foulspiel oder ein vermeintliches Foulspiel ärgert, wird er umgehend von Zuschauern und den Teams zur Ruhe angehalten. Ein wenig traurig denke ich an den deutschen Fußball, der vom spielerischen Niveau Weltklasse ist und von dem man doch immer wieder von unsportlichem Verhalten hört. Als Schiedsrichter weiß ich nur zu gut, wie oft die gelbe oder gar rote Karte wegen Unsportlichkeiten aller Art zu zücken ist. Man denke an Schiedsrichter, die während oder nach dem Spiel physisch attackiert werden, an rüde und brutale Fouls und immer wieder an das leidliche Thema Rassismus und Antisemitismus auf deutschen Fußballplätzen. Eine Realität, die ich hier bisher noch nicht erlebt habe. Obwohl der Fußball weltweit den Gedanken von Fairplay, Fairness und Integration verbreitet, ist diese Botschaft anscheinend noch nicht bei allen angekommen.
Unser Spiel wird derweil mit Freistoß fortgesetzt. Eine muntere Angriffskombination aus schnellen Pässen entsteht, nicht selten haben wir Mühe unser Tor sauber zu halten und nicht immer gelingt es uns. So entsteht aus einem schnellen Konter das verdiente 0:2 aus unserer Sicht. Schon rollt die nächste Angriffswelle der Kubanischen Tormaschinerie heran, als das Spiel auf einmal wie eingefroren stehenbleibt. Mein Gegenspieler macht mir mit einem internationalen Zeichen klar: Auszeit! Verwundert blicke ich mich um und mache dann auch schnell den Grund dafür aus: Eine Frau mit Kind, möchte das Fußballfeld vom angrenzenden Spielplatz aus überqueren. Geduldig warten wir, bis die beiden den Platz hinter sich gelassen haben und alle Wechsel vollzogen sind, zu denen die Auszeit gerne genutzt wird. In der Folgezeit kommt dieses Phänomen öfter vor: Menschen wollen den Platz überqueren und selbstverständlich wird das Spiel umgehend pausiert, man grüßt die Vorbeikommenden, schließlich kennt man sich, und danach wird weitergespielt. Auch die Wechsel funktionieren unproblematisch. Oft nimmt ein Jugendlicher den Platz eines anderen ein, wenn dieser kurz weg oder nach Hause geht. Ebenso üblich ist es, dass das Verliererteam dem nächsten Team Platz macht. Das universelle und integrierende Prinzip des Fußballs gilt auch hier: Wer mitspielen will, wird früher oder später eingewechselt, ausgeschlossen wird niemand.
Ein Platz als Treffpunkt
Unser Spiel geht nun schon eine ganze Weile lang, doch trotz guter Chancen und einem Spiel auf Augenhöhe kassieren wir das 0:3. Während wir verzweifelt versuchen zumindest ein Tor zu markieren, füllen sich die Bänke langsam mit älteren Jugendlichen, älter als es unsere Gegner sind. Schnell wird klar: Die nächsten wollen spielen. Eine Konkurrenz um den Platz entsteht jedoch nicht. Die Größeren schauen den Kleineren zu und umgekehrt. Niemand beansprucht den Platz für sich. Wenn die einen fertig sind, dürfen die nächsten spielen. So verlassen auch wir bald darauf völlig außer Atem den Platz und setzen uns auf eine der Bänke. Ich nutze die Pause, um mich einmal gründlich umzusehen. Der Platz ist größer als er auf den ersten Blick scheint. Neben dem zum Fußballplatz umfunktionierten Basketballfeld liegt ein kleiner Park mit Bänken, gefüllt mit allerlei Personen jeden Alters. Hier befindet sich einer der Internet-Hotspots der staatlichen Telekommunikationsfirma. Die Leute surfen im Netz, verbringen Zeit in den sozialen Netzwerken oder telefonieren mit Verwandten und Freunden aus anderen Regionen. Vor dem Park befindet sich die Bushaltestelle, gefüllt mit wartenden Menschen, die Richtung Innenstadt wollen. Viele schauen gespannt dem Spiel auf dem Fußballplatz zu und unterhalten sich darüber. Ein wenig kommt in mir die bekannte Atmosphäre der heimischen Kreisliga hoch: Wenn das ganze Dorf zum Spiel kommt und die Alten über die Jungen tratschen. Zwischen dem Treiben bietet ein kleiner Churro-Stand seine süße Ware zum Verkauf an. Churros sind allseits beliebte, kleine frittierte Teigstücke, die mit Zucker oder Milch serviert werden. Die Schüler*innen die sich auf dem Heimweg von der nahen Schule befinden, halten hier gerne noch einmal an, die Kosten liegen bei wenigen Pesos (umgerechnet etwa 10-20 Cent). Auf der anderen Seiten des Platzes befindet sich ein Spielplatz für die Kleinen, wo die Kinder in Ruhe Spielen können, während die Eltern sich unterhalten. Schon die kleinsten sind fest ins Fußballspiel integriert, denn irgendjemand muss ja den berühmten Ball über den Zaun wieder zurückwerfen. Ein regelrechter Wettbewerb ist entstanden, wer von den Kleinen den Ball zurückwerfen oder zurückschießen darf. Nicht selten wird hierfür ein zweiter, dritter und vierter Anlauf benötigt, doch genervt ist hiervon keiner. Im Gegenteil: Jeder hat mal klein angefangen und Übung macht bekanntlich den Meister.
Durch dieses vielfältige Angebot ist der Platz hier ein bedeutender sozialer Treffpunkt der Nachbarschaft. Man kennt sich, man grüßt sich, man unterhält sich. Jung und Alt kommen hier zusammen, um zu reden, ins Internet zu gehen, um einen Snack einzunehmen oder um gemeinsam Sport zu treiben. Doch trotz der unterschiedlichen Altersgruppen nimmt man viel Rücksicht aufeinander. Die Fußballer achten beim Spielen auf ihre Umgebung und die Großen achten auf die Kleinen. Ich sehe Jüngere, die bei den Älteren mitspielen, kleinere Kinder die von den großen immer wieder ermutigt werden, dieses oder jenes auszuprobieren, bis es klappt. So muss Fußball sein.
Auf ein Wiedersehen
Während wir noch am Verschnaufen von der ersten Partie sind, werden wir bereits zum Rückspiel gerufen. Auf jeden Fall wollen wir uns steigern und nicht erneut mit 0:3 untergehen. Diesmal klappt es tatsächlich auch mit dem Tor zum 1:0. Nach fünfzehn Minuten steht ein gerechtes 1:1 zu Buche, wobei das Ergebnis hier nicht viel zählt. Die Tore werden anerkennend zur Kenntnis genommen, doch viel wichtiger sind gute Spielzüge, der ein oder andere Trick und natürlich: Spaß am Spiel! Der Gedanke des Sports, der Spaß und einfach das entspannte Kicken in der Nachbarschaft ist es, was mich an diesem Ort fasziniert.
Währenddessen ist es spät geworden in Marianao, der Himmel beginnt schon sich zu färben und die Sonne nähert sich langsam den Häusern und Palmen im Hintergrund an. Erneut möchte eine Gruppe von Jugendlichen den Platz nutzen, Zeit für uns, sich Richtung CUJAE zu verabschieden. Ich bin zufrieden: wir haben Sport getrieben, wir haben neue Kontakte geschlossen und Marianao erkundet. Während wir in den Sonnenuntergang hineinlaufen, dreht sich einer der Jugendlichen noch einmal um und streckt 5 Finger in die Luft. „Mañana a las cinco!“ (Morgen um 5) ruft er uns zum Abschied hinterher, ehe er sich umdreht und sich dem Spiel widmet. Spaß hat´s gemacht und wir kommen gerne wieder…
Dieser Artikel ist von Kilian.