In Kuba gibt es den Spruch „Hay que inventarse“ – Man muss sich etwas erfinden. In diesem Land wimmelt es von Menschen, Überlebenskünstlern und -künstlerinnen, die ständig irgendetwas erfinden, um das Leben etwas besser oder einfacher zu machen.
Der obere Teil einer PET-Flasche als Trichter, ein einfacher Holzstock als Baseballschläger, ein Tisch samt Stuhl statt Leiter, Bonbonpapiere als Glitzerverzierungen – erfinderisch sein gehört hier zum Leben. Und zwar nicht im schlechten Sinne. Ich habe hier Unzähliges fürs praktische Leben gelernt, auf das ich durch den Überfluss an Equipment und Möglichkeiten in meinem Leben in Deutschland nicht gekommen wäre. Ein Jeder, eine Jede kämpft sich hier durchs Leben – im großen und im kleinen Stil. Kleine Erfindungen zum Wasser umfüllen, ein Ballspiel spielen oder eine Glühbirne austauschen sind dabei eine Sache. Das Verkaufen von diesem und jenem, eine andere. Und die Lizenz für den Verkauf von bestimmten Artikeln oder das Anbieten von Dienstleistungen zu haben, noch eine weitere.
Kuba ist ein Land, das für alle sorgt. Es gibt freie Schulbildung, gratis Gesundheitsversorgung. Die Libreta sorgt für ein Minimum an Nahrungsversorgung für jede_n. Jede_m ist ein Arbeitsplatz garantiert. Kultur, Kunst und Sport sind mit symbolischen Preisen für alle zugänglich. Kurz gesagt: Um die Basics kümmert sich der sozialistische Staat, der sich das Wohl der Menschen offensichtlicher Weise als oberste Priorität gesetzt hat.
Oft sind die Löhne jedoch knapp, Menschen beschweren sich über einen Mangel an materiellem Wohlstand. Es gibt Waren, die mit einem durchschnittlichen Lohn schlicht und ergreifend nicht erstanden werden können – ein Luxusproblem, könnte man sagen. Das zum Leben Grundlegende ist gesichert. Wohl wahr – doch um ein wahres Bild der kubanischen Gesellschaft zu zeichnen, gehört auch dazu, zu zeigen, was alles gemacht wird, um sich näher an einen materiellen Wohlstand zu kämpfen.
So auch Yamil und Rosa* . Deren Geschichte ich erzählen möchte, da sie mich nachhaltig beschäftigt hat und eine der vielen kubanischen Lebensrealitäten darstellt.
Das junge Paar Yamil (26) und Rosa (23) ist Eltern zweier Kinder (3 und 6 Jahre). Ursprünglich kommen Yamil und Rosa aus Santa Clara, einer Stadt ca. 350 km östlich von Havanna. Vor ca. 2 Jahren entschied das junge Paar, ihr Glück an der Küste bei Varadero zu suchen. In einem kleinen Ort in der Nähe des internationalen Flughafens Juan Gualberto Gómez lebt die Kleinfamilie in einem gemieteten Haus. Obwohl das kleine Dorf namens Carbonera aus touristischer Sicht „nicht viel zu bieten“ hat, verirren sich frisch gelandete Reisende doch immer wieder in das an der Via Blanca (Küstenautobahn) liegende Dorf und verbringen einige Tage hier, bevor der Urlaub „richtig“ losgeht.
Yamil und Rosa sind nicht mit dem Flugzeug angekommen. Die beiden hatten mit der Idee, sich ein neues Leben in der Region um Varadero auszubauen ihre Kinder bei der Großmutter gelassen und reisten mit dem Camion (LKW mit Sitzen ausgebaut) an. Varadero bietet aufgrund des Tourismus diverse Arbeitsmöglichkeiten. Ohne Geld und ohne einen richtigen Plan reisten die beiden an. „Wir hatten eine Packung Kekse, eine Flasche Cola und genug Geld für die Rückfahrt“, erklärte mir Rosa. Drei Tage schliefen die beiden am Strand, verpflegten sich sparsam mit Keksen und Cola und suchten tagsüber nach einem Haus, das sie für sich und die Kinder mieten könnten. Nachdem sie erfolgreich waren, fuhren sie nach Hause, packten ihr Hab und Gut zusammen und zogen in die wirtschaftlich vielversprechende Region Varaderos.
Yamil hat während der zwei Jahre, die sie nun hier wohnen, in verschiedenen Jobs gearbeitet: In einer Cafeteria am Flughafen, in der Küche eines Restaurants, als Taxifahrer und letztendlich als privater Touristenführer. Oberstes Gut sei die Familie, wird in meiner Zeit, die ich mit den beiden verbringe, immer wieder betont. „Unsere Kinder sollen ein gutes Leben haben“, meint Yamil, während sein 3-jähriger Sohn neben ihm auf dem Boden auf und ab springt und Frosch spielt.
Als Rosa 14 Jahre alt war, lernte sie den 2 Jahre älteren Yamil kennen. Mit 17 wurde sie schwanger und beschloss die Schule nach der 11. Klasse abzubrechen, um für ihre kleine Tochter sorgen zu können. Diese klassische Rollenverteilung war für Rosa selbstverständlich. Sich selbst behauptend ist es ihr wichtig zu sagen, dass zwar ihr Mann das meiste Geld für die Familie heranschaffe, ihre Arbeit im Haushalt und in der Kinderversorgung jedoch unentbehrlich sei, und sie und ihr Ehemann gut als Team funktionieren. Um die Familie zusätzlich finanziell über Wasser zu halten, geht Rosa putzen.
Yamil verbringt seinen Tag auf einem Platz, der sich beim Dorfeingang an der Carretera (Autobahn) beim Zubringer des Flughafens befindet. Dort gabelt er mit seiner freundlichen, offenen und hilfsbereiten Art umherirrende Touristen auf. So auch mich – Hallo, wo kommst du her? Suchst du eine Unterkunft? Was hast du heute vor, warst du schon beim Strand? …die typischen Fragen. Von Anfang an machte ich Yamil klar, dass ich keine potenzielle Kundin sein werde. Ich hatte lediglich vor, den Tag an der Küste zu verbringen, um abends meinen Vater vom Flughafen abzuholen. Das sei ganz egal, meinte Yamil, nahm mich an die Hand und machte es sich zur Aufgabe, mir das Dorf, und den Strand zu zeigen, mir seine Nachbar_innen vorzustellen und alles zu tun, damit ich mich willkommen geheißen fühlen würde. Er sei nicht auf Geld aus, ich dürfe mich einfach, ohne Hintergedanken, darauf einlassen, einen schönen Tag zu verbringen.
Zusammen mit einem jungen spanischen Pärchen machten wir einen Ausflug zu einer nahegelegenen Tropfsteinhöhle, die mit einem 22 Meter tiefen kristallklaren See im Inneren, Touristen anlockt. Yamil erzählte uns während des Ausflugs aus seinem Leben, die Atmosphäre war entspannt, freundschaftlich. In einem ruhigen Moment fragte ich Yamil, wie das hier alles eigentlich funktioniere – bezahlen die anderen beiden für die Zeit, die wir zusammen verbringen? Denn bei aller Liebe, die Yamil offensichtlicher Weise in die Angelegenheit steckte, verdiente er auch seinen Lebensunterhalt mit der Bespaßung von Touristen. Yamil erklärte mir seine „Businessidee“: Er unternehme verschiedene Ausflüge mit Neuankömmlingen, vermittele Unterkünfte etc., verbringe Zeit am Strand oder zeige Schnorchelbegeisterten das nahegelegene Riff. Anschließend lade er sie zum Essen zu sich nach Hause ein. Seine Frau bereite das Essen vor und die Touristen können dann, wenn sie wollen, das bezahlen, was sie wollen bzw. was ihnen angebracht vorkommt. Eine Lizenz hierfür habe er nicht und obwohl nicht viele Kontrollen gemacht würden, bewege er sich immer am Rande der Legalität.
Die freundschaftliche Art mit der Yamil und später auch Rosa uns begegneten, schuf ein sonderbares Verhältnis zwischen allen Beteiligten: Einerseits wurde die Situation eines Nachmittags, den man mit Freund_innen verbringt, nachgestellt. Dabei wurde natürlich auch von der prekären finanziellen Situation der Familie erzählt. Andererseits wurde seitens Yamil und seiner Frau so viel angeboten und hergerichtet, dass es schlechter Stil gewesen wäre all dies einfach so anzunehmen, ohne etwas dafür zurückzuzahlen. Die einfachste Art sich für Gastfreundschaft und kulinarische Versorgung zu bedanken, ist ein paar Geldscheine da zu lassen. Besonders in der kapitalistischen Denkweise, die uns allen bekannt ist und die allermeisten zutiefst verinnerlicht haben, sind sich alle bewusst: Wenn ich etwas bekomme, muss ich etwas zurückgeben. Von nichts kommt nichts. Vor allem, wenn man die simplen Lebensverhältnisse der Familie sieht und sich als Reisende_r gerade selbst einen Luxus erlaubt, verfällt man in leicht in ein schlechtes Gewissen. Um einerseits dies zu kompensieren und andererseits Yamil und seiner Frau, die so großzügig waren, ein kleines Stück vom eigenen Wohlstand abzugeben, lässt man etwas Geld da. Ein einfaches Konzept, von dem die 4-köpfige Familie leben kann.
Als es also zum Mittagessen ging, signalisierte ich Yamil, dass ich mich verabschieden werde. Das wäre zu viel, er habe sich schon so nett um mich gekümmert und ich hatte eine wirklich angenehme Zeit mit dem spanischen Pärchen und ihm verbracht – aber, wie ich von Beginn an gesagt hatte, sei ich nicht als Touristin hier, die Bespaßung brauche und später mit Trinkgeld bezahlen würde. Yamil bestand darauf mich einladen zu wollen: Ich solle unbedingt seine Frau und Kinder kennenlernen. Ich sei als Freundin der Familie eingeladen – außerdem sei ich doch fast Kubanerin, wo ich in Havanna studiere und hier bleibe niemand mit leerem Magen.
Das Essen war super – und auch die Stimmung war nett. Die Kinder waren zuckersüß. Die 6-jährige zeigte uns stolz ihre ersten Schreibversuche und schrieb die Namen von allen Anwesenden in groben und leicht deformierten Blockbuchstaben auf einen Zettel. Der kleine 3-Jährige versuchte durch Klettervorführungen auf dem Baum im Hof die Aufmerksamkeit der Yumas zu gewinnen (Yuma ist das umgangssprachliche Wort für Ausländer_innen. Der Kleine flüsterte seinem Vater immer wieder verlegen etwas über die Yumas zu und schaute uns dabei mit dem verschmitzten, schüchternen Lächeln eines 3-Jährigen hinter dem Bein seines Vater an). Nach dem Essen verabschiedeten sich die Spanier mit einem großzügigen Trinkgeld. „Damit kaufe ich dir das gelbe, das du dir gewünscht hast“, sagte Rosa mit einem Zwinkern zu ihrer kleinen Tochter.
Yamil erzählte uns beim Essen von einem mexikanischen Pärchen, welches neulich da war, und der Freundschaft, die er und Rosa mit ihnen geschlossen hätten. Sie hatten Yamil und Rosa im Nachhinein eine große Geldsumme überwiesen und werden Yamil helfen, einen Job in Mexiko zu finden. Yamil hielt sich beim Essen zurück, da er für seinen Job in Mexiko gut aussehen müsse. Was genau er machen würde, gab er nicht preis. Einen Job, in dem nur gut aussehende Männer, die gut in Form sind, angestellt werden.
Mein Abend endete einem langen Gespräch mit Rosa, die mir half, zum Flughafen zu kommen. Sie schüttete mir quasi ihr Herz aus, erzählte mir von ihrer Lebensrealität und beeindruckte mich einerseits durch die Stärke, die sie als 23-jährige Frau an den Tag legte, und öffnete andererseits diverse Fässer, die mich auch heute, einige Wochen später, noch beschäftigen.
Das Leben weit entfernt von ihrer Familie in Santa Clara sei für Rosa nicht einfach, doch den Umzug in die Region Varaderos habe sie vor allem ihren Kindern zuliebe gemacht. Sie sollen ein besseres Lebens als sie selbst führen können, den Grundstein hierfür sehe sie in der schulischen Ausbildung der Kinder, die hier auf dem Land besser sei. Besser in dem Sinne, dass es hier einfacher sei, Lehrer_innen etwas Geld zuzustecken, damit sie den Kindern Extraunterricht geben und sie besser auf Prüfungen vorbereiten. Ganz im klassischen Sinne der Nachhilfe, wie wir sie aus Deutschland kennen – wer mehr zahlt, bekommt bessere Unterstützung. Ihre Lebensentscheidung, die Schule abgebrochen zu haben und früh Kinder zu bekommen, bereue sie nicht, ihren eigenen Kindern wünsche sie jedoch etwas anderes, meinte Rosa während wir startenden und landenden Flugzeugen zuschauen.
Rosa erzählte mir von Yamils Arbeitsaussichten in Mexiko: er wird dort auf dem Bau arbeiten und harte körperliche Arbeit leisten müssen. Es handelt sich um Saisonarbeit, das heißt die Aussicht für die nächsten (10!) Jahre ist ein andauerndes Kommen und Gehen des Ehemanns – Rosa wird die Kinder größtenteils alleine aufziehen. Der Job sei zwar nicht gut bezahlt, das Geld würde jedoch reichen, um der Familie ein eigenes Haus zu kaufen und somit eine Existenzsicherung zu haben. …und vielleicht irgendwann nach Spanien auszuwandern – das ist ihr großer Traum. Warum nach Spanien? „Alles, was man im Fernsehen sieht, sieht nach einem guten Leben aus.“ Das Paradoxe ist zu bemerken, wie inkonsistent Rosas Ideen, Wünsche und Meinungen sind. Einerseits betont sie immer wieder, wie sehr sie die kubanische Mentalität liebt – die Hilfsbereitschaft, das Miteinander, die Offenheit. Wenn sie nur ein Haus hier hätte, wäre für alles andere gesorgt. Die Kinder müssten nichts für die Schule bezahlen, zum Arzt könne man immer gehen und nachbarschaftliche Fürsorge sei das letzte, an dem es hier mangele. Andererseits ist sie überzeugt, dass das wahre Glück im Ausland zu finden sei. Es kommt mir vor wie die typische verklärte Wahrnehmung des fernen Auslands, des fernen Europas, wo alles besser sein soll.
Und das andere, Rosas Art über die Yumas zu sprechen. Sie verbringt tagein, tagaus mit ausländischen Tourist_innen, bekocht diese bei sich zu Hause und führt Tag täglich die gleichen Gespräche über kulturelle Unterschiede, die beliebtesten Attraktionen der Region und das Leben hier in Kuba (das durch ein paar Dollar der Touristen besser gemacht werden könnte). Man konnte eine Abneigung gegen diese scheinbar homogene Gruppe der Yumas heraushören. Eine Abneigung, gemischt mit einer Faszination und dem Wunsch, diesen Menschen besonders nah zu sein, um ein Leben etwas ähnlicher des ihrigen zu führen.
Das kuriose und für mich bedenkliche an Rosa und Yamils Leben ist die vollkommene Vermischung von Arbeit und Sozialem. Das Nettsein zu fremden Besucher_innen, die mehr Geld als man selbst haben, als Existenzgrundlage zu haben bringt schwierige Dynamiken mit sich. Die scheinbar freundschaftlichen Beziehungen, die Rosa und Yamil täglich neu aufbauen, machen für sie neben der Beschaffung des Lebensunterhalts auch einen Großteil ihrer sozialen Beziehungen aus. In dem Austausch, der dabei stattfindet, gibt es nichts festgelegtes: keine festgelegten Preise, keine festgelegten Zeiten, keine festgelegten Grenzen. Alles mischt sich: Freundschaften bringen den Lebensunterhalt ein, Freundschaften sind dementsprechend Arbeit, Arbeit bedeutet in diesem Fall menschlich und hilfsbereit gegenüber anderen sein. Alles ist Arbeit und alles ist Freizeit, und nichts ist sicher. Das Nettsein kommt von Herzen, aber ohne Nettsein hat auch die Familie nichts zu essen.
* fiktive Namen
Dieser Artikel ist von Lena, hier geht es zu weiteren Artikeln von ihr.
Es ist eigentlich eine alte Erkenntnis, Bedürfnisse, die erfüllt sind, spürt man nicht mehr. Vor der Revolution gab es in Kube 45 % Anaphabeten, in den Bergen der Sierra Maestra litten 90 % der Kinder an Unterernährung und parasitären Krankheiten, eine grassierende Arbeitslosigkeit, 85 % der Menschen hatten kein Zugang zu fließendem Wasser und dann wurde und wird die wirtschaftliche Entwicklung des Landes von den schärfsten Sanktionen, die je über ein Land verhängt wurden, behindert.
Man sollte es eigentlich niemanden wünschen, aber Rosa und Yamil könnten so ein Leben mal ausprobieren, nach Haiti mal rüber würde reichen.
Über 50 % der US Amerikaner wären froh, einen Lebensstandard zu haben, den die DDR Bürger 1989 auf die Strasse trieb.
Ja, die zwei haben ein Luxusproblem, wie es auch viele DDR Bürger hatten.
Das Resultat ist bekannt. Ich war zwei mal in Kuba und habe auch solche Leute getroffen, die „Freundlichkeit“ war nicht echt, es ging nur um das liebe Geld und das macht betroffen. ich habe viele andere Menschen dort kennengelernt, ohne aufgesetze Freundlichkeit, bei denen ich mich viel wohler gefühlt habe. Ja, als ein Fahrradmechaniker mir wegen fehlendem Spezialwerkzeug nicht helfen konnte, habe ich aus D dann die Sachen geschickt. Wohl wissend, damit anderen gleichzeitig Unrecht zu tun. Und ich habe bemerkt, wie schwierig es ist, ein simples Paket zu senden, die Sanktionen lassen grüßen. Ich wünsche dem kubanischen Volk das Beste, sie haben ihren Platz in der Weltgeschichte.