Ein Freund lud mich zu sich nach Hause ein. Ich freute mich auf die „kubanische Geburtstagsfeier“, war neugierig, seine Familie kennen zu lernen. Dort angekommen, fühle ich mich gleich sehr willkommen. Mir wird ein Gläschen Rum in die Hand gedrückt und ich werde sehr liebevoll empfangen und umsorgt. Da ich ein T-Shirt anhabe, auf dem gelb-grün-rote Streifen sind, wird gleich angenommen, dass ich Bob Marley-Fan bin und die entsprechende Musik aufgelegt. Mit dem Reggae-Rhythmus im Hintergrund und dem Gläschen Rum in der Hand werden mir die Menschen vorgestellt. Zunächst Mutter und Bruder, zwei sehr herzliche Menschen, die mir gleich sagen, dass ich hier ein neues Zuhause habe und was auch immer ist, hier meine Familie antreffe. Dann den Onkel und die Tante. Und schließlich den anderen Bruder.
Aber jetzt gerate ich ins Stocken. Hat er mir nicht erzählt, dass er nur einen Bruder hat? Wo kommt der andere her? Vielleicht von einer anderen Mutter oder einem anderen Vater. Ich bin froh, dass wir auf dem Balkon stehen und so ein kleines Lüftchen vom Meer her weht, denn gerade bin ich verwirrt und hadere mit mir, ob ich nun nachfragen soll oder nicht. Um abzulenken, nehme ich ein Schlückchen von meinem Gläschen und zweifle gleichzeitig daran, dass mein Kopf von dem Getränk klarer wird. Ich entscheide mich schließlich dafür, abzuwarten und zu beobachten. Ich unterhalte mich mit dem „zweiten“ Bruder. Er erzählt mir, dass er mit meinem Freund zusammenarbeitet – welche ein Zufall? Schließlich erzählt er mir, wie gerne er meinen Freund hat und dass er sein Bruder ist – erneut. Und dann – im Hintergrund immer noch der gleiche Beat von Bob Marleys Buffalo Soldier – benutzt er das Wort „hermana“, Schwester. Jetzt verstehe ich gar nicht mehr, doch dann verstehe ich doch. Er spricht von mir als seiner Schwester. Inzwischen läuft Bob Marleys „One Love“ und ich fange an zu verstehen, was Bruder, Schwester, Onkel, Tanten bedeuten. Von den leiblichen Eltern her hat mein Freund wirklich nur einen Bruder – den ersten. Aber da kommt es irgendwie nicht drauf an. Wenn Menschen so nah beieinander wohnen, zusammenarbeiten, Abends zusammen von der Arbeit nach Hause kommen, lediglich in unterschiedlichen Häusern schlafen, dann sind sie doch eigentlich schon wie eine Familie, oder?
Ich brauchte eine Weile, um über das Wort „Familie“ nachzudenken. Was ist das eigentlich für mich? Bisher waren das immer meine Schwester, meine Eltern und meine Oma. Dann gibt’s noch Onkel, Tanten und Cousin*en, aber das ist schon „entferntere Familie“. In der Vorlesung „Psychologie der Familie“, die ich an der Psychologischen Fakultät der Universität von Havanna besuche, wird dies als traditionelles, konservatives, konsanguines Konzept von Familie bezeichnet. Ganz anders als das erlebte kubanische Konzept von Familie. Familie ist hier anders. Viele Menschen leben auf engem Raum und Menschen teilen sich das Bett. Oft leben Kinder aufgrund mangelnden Wohnraumes noch sehr lange mit ihrem Eltern zusammen in der gleichen Wohnung. Wenn sie heiraten, zieht der/die Ehepartner*in dazu. Hin und wieder hatte ich von Konflikten gehört, die durch solche Konstellationen und dem Wunsch nach der eigenen Wohnung und Unabhängigkeit entstehen. Dies ist jedoch aufgrund der angespannten Wohnsituation einfach nicht möglich. So leben viel mehr Menschen auf dem gleichen Raum und diese sind nicht immer biologisch verwandt; der Freund der Tochter, die Freundin der anderen Tochter, die zum Studieren nach Havanna gekommen ist – oder eben wie bei meiner Vermieterin ihre Oma. Eines Tages, nach vielen Monaten erzählte mir diese, dass ihre Oma ja leider schon länger tot sei. Ein erneuter verdutzter Moment, indem ich mir gewünscht hätte, auch dieses Mal auf dem Balkon mit Meerbrise zu stehen, um einen klareren Kopf zu bekommen. Anscheinend hat sie mir meine Verwirrung angesehen und fügte hinzu: „Du weißt schon, dass meine Oma (also diejenige, die bei uns im Haus lebt) nicht wirklich meine Oma ist? Aber ich mag sie so gerne, als wäre sie meine „richtige“ Oma.“ Und so wird sie hier auch von allen genannt.
Auch in der Nachbarschaft habe ich solche fließenden Familiengrenzen schon ein paar Mal beobachten können. Ich genoss es bei Festen von meinem kleinen Balkon aus über der Straße in Ruhe beobachten und zuhören zu können. Am Ende des Abends sind alle Brüder und Schwestern gewesen und ich konnte nie wirklich herausfinden, wer nun „wirklich“ mit wem verwandt ist.
Eine Vermutung von mir ist, dass die Ursachen hier unter anderem im System begründet liegen. Sozialistische Werte wie Gleichheit, Freiheit und v.a. Solidarität ließen im Laufe der letzten Jahrzehnte ein Gemeinschafts- und Verantwortungsgefühl entstehen, das ich aus der Gesellschaft, aus der ich komme, so nicht kenne. Da ist es einfach nicht mehr so wichtig, ob diese Person nun die gleiche Mutter oder den gleichen Vater hat, letztendlich sind sie alle Kubaner*innen, die zusammen gegen den Imperialismus und für ihre Unabhängigkeit gekämpft haben und kämpfen.
Dass diese Werte hier bestehen, ist kein Zufall. Letzte Woche besuchte ich meine Freundin und Nachbarin. Ihr elfjähriger Sohn war gerade bei den Hausaufgaben im Fach „Educación Cívica“1 und fragte mich, ob ich ihm helfen könne (in der Hoffnung, dass es dann schneller geht und er bald raus kann, um mit den anderen Kindern Fußball zu spielen). Ich war ihm keine große Hilfe, sobald ich nämlich das Kapitel „Familie“ in seinem Buch fand, beschlagnahmte ich dieses und ließ ihn wieder alleine lernen. In seinem Schulbuch fand ich folgende Definition von Familie:
„Die Familie ist eine Gruppe von Menschen, die durch Konsanguinität (biologische Verwandtschaft) vereint ist, wie es die Eltern, Kinder, Geschwister, Großeltern, Tanten, Onkels und Cousin*en sind. Zwischen allen Mitgliedern der Familie sollte Liebe und Zuneigung, Respekt und Solidarität bestehen.
Die Familie repräsentiert die erste Gruppe, der ein Mensch zugehörig ist. Es ist also die grundlegendste Zelle der Gesellschaft. Durch die Familie werden Bräuche, Normen, Moral, Gefühle und Verhaltensweisen vermittelt.“
Das darauffolgende Kapitel heißt: „Welche anderen Personen halten wir für Familienmitglieder?“ Dazu steht folgender Lehrtext im Buch:
„Die Familie? Luisito schau mal, weißt du, wer deine Familie ausmacht? Das sind Papa, Mama, dein Schwesterlein Gisela, Tante Mariso, deine Oma und du. Es stimmt. Vom Gesichtspunkt der Konsanguinität sind wir eine Verwandtschaft: Wir sind verantwortlich für deine Bildung und Erziehung undum auf dich aufzupassen. Aber wenn du bedenkst, dass alle Nachbar*innen im Viertel Kubaner*innen und Revolutionär*innen sind, dass wir alle eine gemeinsame Mutter haben, unser Mutterland, wer macht dann diese andere Familie aus?
Hier im Viertel sind wir mehr, z.B. Pepe und seine Verwandtschaft, ebenso Chrstina die Nachbarin dort an der Ecke. Warum nicht alle Nachbar*innen im Viertel?
Denke darüber nach, und genauso an deine Mitschüler*innen im Klassenzimmer, deine Lehrerin in deiner Schule. Denke gut darüber nach, mit deinen Mitschüler*innen lernst du jeden Tag, ihr arbeitet gemeinsam im Schulgarten. Mit ihnen teilst du deine Buntstifte, Radiergummi… bis zum Pausenbrot. Du spielst mit allen und ihr habt viel Spaß.
Deine Lehrerin, die dir guten Unterricht gibt, sich darum sorgt, dass ihr lernt und gute Noten erhaltet. Es gibt keine Zweifel… das ist auch wie eine Familie.
Und es gibt noch mehr, Luisito. Du kennst Lucía, sie zieht die kleine Carmen auf, die nicht ihre Tochter ist, aber sie kümmert sich um sie, erzieht sie und liebt sie sehr. Ist das nicht ihre Mutter?
Das Wichtigste ist, dass du gut verstehst, dass in unserem sozialistischen Land Familie nicht nur Mama, Papa und die Großeltern sind. Als Familie können wir all diejenigen bezeichnen, die mit uns zusammenleben, die uns respektieren, die uns unterstützenden richtigen Weg zu finden, wenn wir vom Wege abgekommen sind, die unsere Freude und Trauer teilen und die uns helfen, uns zu würdigen Kindern unseres Mutterlandes zu entwickeln.
Ja Mama, ich hab’s verstanden! So wie du sagst, ist Kuba eine große Familie.“
Gestern, genau ein Jahr nach dem ersten Gläschen Rum zu Buffalo Soldier und Co. Stehe ich erneut in der Meeresbrise auf diesem kleinen Balkon. Den Ruf Reggaemusik zu mögen, bin ich nicht mehr losgeworden, dieses Mal höre ich die „Three little birds“ von Bob Marley im Hintergrund. Erneut habe ich das kleine Gläschen in der Hand. Als ich dieses mal in die Wohnung eintrat wurde ich als „Schwester“ vom einen Bruder begrüßt und die Mutter fragte mich „Hija ?Cómo estás?“ (Mein Kind, wie geht es dir?). Ich habe mich daran gewöhnt, Schwester und Tochter zu sein und fühle mich wohl mit dem Gedanken, Mitglied von vielen Familien zu sein. Erneut schwirrt mir der Kopf; aber dieses Mal weil ich ausgelassen, zufrieden und glücklich zu oft an meinem kleinen Gläschen genippt habe, während mein linker Fuß im Takt zum Reggaebeat wippt.
1 Leider finde ich keine eindeutige Übersetzung von Educación Cívica. Educación bedeutet Bildung; cívio/a bedeutet städtisch, bürgerlich, zivilisiert; valor cívica ist Zivilcourage. Im Gespräch mit seiner Mutter und beim Durchblättern des Buches komme ich zu dem Schluss, dass es bei dem Fach um soziales Zusammenleben, Gemeinschaft und Wertevermittlung geht. Andere Kapitel behandeln z.B. die Liebe zum Mutterland, Arbeit und Rechte von Arbeitenden, Freundschaft und Werte, das Leben im sozialistischen Kuba.
Dieser Artikel ist von Juli. Hier findest du weitere Artikel von ihr.
Wundervoller Beitrag! Danke, Jul!