Es ist Freitag, fünf Uhr dreißig. Morgens. Ich stehe im vollgepackten Bus der Linie PC und fahre in Richtung des Stadtrands von Havanna. Für die Kubaner*innen, die sich gerade zur Arbeit quälen, müssen wir drei Kartoffeln mit unseren riesigen Treckingrucksäcken ein ungewöhnliches Bild abgeben. Anmerken lassen sie sich das aber nicht. Wir quälen uns zwar auch, machen das aber freiwillig und nennen das dann Abenteuer oder so. Für das lange Wochenende ist geplant, mehrere Tage im kubanischen Dschungel zu verschwinden und am Ende auf einen tausendnochwas Meter hohen Berg zu kraxeln.
Es ist nicht unser erster Ausbruch aus dem Trubel Havannas und wir sind dabei auch nicht alleine unterwegs. In Kuba gibt es mehrere Gruppen, die regelmäßig Exkursionen dieser Art organisieren. Zusammen bilden sie das movimiento cubano de excursionismo, welches seit 2013 existiert und aus knapp zehn Untergruppen besteht, die insgesamt etwa 200 Mitglieder haben. Diese gibt es teilweise schon seit Ende der 80er Jahren und die meisten sind an einer Universität oder Forschungseinrichtung beheimatet. Normalerweise veranstalten die Gruppen ihre Exkursionen selbstständig oder mit einzelnen anderen Gruppen zusammen, manchmal finden jedoch auch Exkursionen des gesamten movimiento statt. Diese sind mal mehr und mal weniger abenteuerlich. Wir sind diesmal bei einer sogenannten guerilla dabei – also eher so Abenteuer. Vor zwei Wochen waren wir mit fast der gesamten neuen Projektgruppe bei einer, von unserer Unigruppe organisierten, Exkursion dabei. Da ging es nur für ein paar Stunden durch den Wald zu einem Naturschwimmbecken mit Wasserfällen. Sowas nennt man dann niedrigschwelliges Angebot.
Outdoorfreizeit „a lo cubano“
Etwas außerhalb der Stadt treffen wir am Rand der Autobahn auf den Rest der 22-köpfigen Truppe. Die komplette Outdoor-Funktionskleidungs-Montur besitzt hier niemand. Erstens ist sowas in Kuba kaum zu bekommen und zweitens kann sich das kaum jemand leisten. Den größten Teil des heutigen Tages werden wir aber sowieso auf der Straße verbringen. Nicht schlimm denke ich, wenigstens kann ich so noch ein bisschen weiterschlafen. Als ich mich im camión – als Bus umfunktionierter LKW – auf behelfsmäßig zusammengeschweißten Eisenbänken zwischen Rucksäcken und Hühnerkäfigen widerfinde, verabschiede ich mich jedoch schnell von dieser Vorstellung. Nach fünfmaligem Fahrzeugwechsel kommen wir schließlich an, wobei der alte Schulbus am Ende auf der steilen Bergstraße noch fast liegengeblieben wäre.
Es dämmert schon und deshalb müssen wir den, vom Regen vollkommen in Matsch verwandelten, Weg runter ins Tal im Dunkeln bestreiten – gratis Ganzkörperschlammkur inklusive. Letztendlich überstehen jedoch alle halbwegs unversehrt die Schlitterpartie und wir bauen unsere Zelte unten am Fluss auf. Wir campieren neben einem kleinen Bauernhäuschen, in dem ein campesino unter einfachsten Bedingungen zusammen mit seinen Tieren wohnt. Selbstverständlich dürfen wir fürs Abendessen noch seine einfache Küche benutzen. Als wir am Samstagmorgen die Zelte abbrechen, sind alle guerilleros noch motiviert und voller Energie. Der anstrengende Teil geht ja auch jetzt erst los. Die nächsten Tage müssen wir nicht nur unsere Kräfte gut einteilen – auch unser Trinkwasser ist begrenzt, weil nicht sicher ist, ob wir vor unserem Ziel nochmal an einer Quelle vorbeikommen werden. Deshalb füllen wir unsere Kanister noch einmal schnell beim dem netten alten Mann auf, bevor wir uns von ihm verabschieden und aufbrechen.
Mit solchen Einschränkungen umgehen zu lernen ist Teil der Idee, die hinter dem movimiento – und den guerillas im Speziellen – steht. Die meisten excursionistas suchen einfach nur einen Weg mal aus der Stadt herauszukommen und ein paar Tage in der Natur zu verbringen. Die Exkursionen bieten für sie eine gute und bezahlbare Gelegenheit die landschaftliche Vielfalt des eigenen Landes gemeinsam zu erkunden. Eine Alternative zum Wochenende mit Rumtrinkpäckchen und Raggeatonmusik. Einigen geht es dabei aber auch noch um mehr. Die Exkursionen haben auch das Ziel bestimmte Werte zu vermitteln, bzw. diese in den Teilnehmer*innen heranzubilden. Es geht um Freundschaft, solidarischen Umgang und das gemeinsame Bewältigen von Hindernissen.
Um zusammen im Dschungel voranzukommen, muss man aufeinander achten, aber auch selbst Initiative ergreifen und eigene Ideen einbringen. Außerdem geht es darum Respekt und Rücksichtnahme gegenüber der Natur zu entwickeln, die Lebensweise der campesinos kennen zu lernen und dadurch auch die eigenen städtischen Privilegien zu reflektieren. Elektrizität, fließendes Wasser und eine Straßenanbindung sind in Kuba nicht für alle eine Selbstverständlichkeit. Letztendlich ist auch das Bestärken des Patriotismus Ziel des movimiento. Eine institutionelle Anbindung an politische Organisationen besteht jedoch nicht, auch wenn einige der excursionistas gleichzeitig gewählte Vertreter*innen der kommunistischen Partei bzw. des kommunistischen Jugendverbandes und der Studierendenvereinigung sind.
Irrung im Urwald
Wir bewegen uns durch eine hügelige Landschaft voll unberührter Natur. Ein wunderschönes Meer aus dichtem Grün, mit seinen Wellenbergen und -tälern. Zumindest von oben wirkt es so. Von dort aus kann man gut Ausschau halten, aber unten im Tal ist es gar nicht mehr so einfach in die Richtung zu laufen, die man sich vorher ausgesucht hat. Gerade kämpfen wir uns wieder einen etwas steileren Hang empor. An einer ebenen Stelle halten wir kurz inne. „¡Bajemos!“ schallt es mir von vorne entgegen. Also wieder runter. War also wohl doch der falsche Hügel. So kommen wir unserem Ziel heute wahrscheinlich nicht viel näher. Bevor es dunkel wird finden wir aber glücklicherweise noch eine schöne Lichtung, wo wir unser Lager aufschlagen und das Abendessen kochen.
Die Essenversorgung auf den Exkursionen läuft immer kollektiv ab. Alle bekommen eine Liste von Dingen, die sie mitbringen sollen. Diese werden dann zu den Mahlzeiten zentral gesammelt und zubereitet. Es ist natürlich nicht verboten sich auch noch eigenes Essen mitzubringen, aber es ist üblich alles zu teilen. Das Essen ist nicht luxuriös, aber zweckmäßig und für alle erschwinglich. Außerdem bin ich so enorm hungrig, dass ich jetzt auch ungekochten Reis essen würde. Zuerst wird an jeden eine Portion verteilt. Falls dann noch genug übrig bleibt bekommt man auch noch doble – und mit viel Glück triple. Leider reichen die Portionen nicht ganz aus, um mich satt zu machen – in weiser Vorrausicht habe ich jedoch eine Notreserve eingepackt. Als wir uns in unser Zelt verkriechen, um heimlich eine Dose Thunfisch aufzumachen, frage ich mich: Ist das jetzt schon mein Bruch mit der sozialistischen Solidarität? Aus dem Nachbarzelt vernehme ich leises Knistern und das Wort „chocolate“. Wir sind also nicht die einzigen. Alles eine Frage des Kontextes und des Ausmaßes, sage ich mir.
Um einen bessern Überblick von unserer Lage zu bekommen, klettert einer aus unserer Gruppe am Sonntagmorgen kurzerhand auf einen 20 Meter hohen Baum. Ich habe ernsthaft Angst, dass er da gleich runterfällt. Tut er aber nicht und die Reise geht weiter. Heute wollen wir eigentlich auf dem Pico San Juan ankommen. Besonders hilfreich schien die Kletteraktion für unsere Orientierung allerdings leider auch nicht gewesen zu sein, denn einige Stunden später befinden wir uns schon wieder in einer „Wo? Wie? Was?“-Situation. Die erfahreneren guerilleros schwärmen in verschiedene Richtungen aus, um sich ein Bild von unserer Position zu verschaffen. Als sie zurückkehren, wird darüber beraten wo es jetzt langgeht. Doch trotz Zuhilfenahme von Karte, Kompass und Handy-GPS gestaltet sich die Ortsbestimmung schwierig. Wir entscheiden uns für eine Richtung und ziehen weiter. Bis es nicht mehr weitergeht, da wir vor einem kleinen Abgrund stehen. Wir müssen uns an der Felswand abseilen, was aber sehr gut funktioniert, da sich alle gegenseitig helfen. Inzwischen müssten wir unserem Ziel schon sehr nahe sein, aber da die Sonne schon wieder untergeht sind wir gezwungen für heute abzubrechen und mitten im Dschungel zu übernachten.
Die Kräfte der Gruppe sind am Montagmorgen schon etwas aufgezehrt. Heute müssen wir wirklich ankommen. Schon kurz nach unserem Aufbruch, treffen wir wundersamer Weise auf eine Gruppe von Menschen in Arbeitskleidung. Sie können uns auch sagen, dass es zwei Optionen für den Weg gibt: Den anstrengenden, spannenden und den langweiligen, sicheren. Der harte Kern der Gruppe will immer noch Abenteuer. Wir anderen wollen einfach nur ankommen – und können uns durchsetzen. Als wir dann endlich das erste Gebäude der Radarstation erblicken, durchfährt mich eine Welle von Glücksgefühlen. Selten war ich so froh, Beton zu sehen. Die Menschen, die dort arbeiten, begrüßen uns herzlich und schenken uns sogar noch etwas leche condensada (vollkommen übersüßte, getrocknete Kondensmilch) und leckeren Mangosaft. Bis zum Gipfel gilt es nur noch eine Treppe zu bewältigen und dann sind wir tatsächlich da. Von hier oben hat man wirklich einen fantastischen Ausblick über den kubanischen Dschungel bis hin zum karibischen Meer. In diesem Moment des gemeinsamen Erfolges rückt die Erschöpfung in den Hintergrund. Was für ein Erlebnis die letzten Tage doch waren. Fast ungläubig blicke ich auf das Dickicht herab, durch das wir uns gekämpft haben. Doch nach einer ausgiebigen Fotosession müssen wir auch schon wieder weiter, schließlich wollen wir heute Abend noch in Havanna ankommen. Der Rückweg folgt glücklicherweise einer einzelnen Straße, dort können wir uns hoffentlich nicht mehr verirren.
Dieser Artikel ist von Max. Hier geht es zu weiteren Artikeln von ihm.
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