Durch das klappernde Fenster in meinem Zimmer, werde ich gegen 3 Uhr morgens wach und auf einmal knallt ein Windstoß es endgültig zu. Halt, war das ein Windstoß? Eine fluoreszierende Wolke setzt sich von der Decke ab. Ist das ein Albtraum? Nein! Die Wolke fängt an Gestalt anzunehmen. Mit einem markanten Bart, einer Mütze auf der ein roter Stern prangt. Das Gesicht kenne ich doch irgendwoher. Verdammt, das ist Ché. „Was machst du denn hier?“, frage ich ihn. „Hey León!“, antwortet er mir. „Ich wollte nur einmal kurz vorbeischauen und ein paar Gedanken für die Menschen dieser Welt hinterlassen. Leider kann ich in dieser Daseinsform keinen Stift in die Hand nehmen und du müsstest das für mich erledigen.“ Gesagt getan. Setze ich mich also an meinen Schreibtisch. Mit tiefer Stimme, bedacht auf jedes Wort, fängt er an zu erzählen:
„Hey liebe Leute! Mein Name ist Ernesto Guevara de la Serna, besser bekannt als Ché Guevara und wahrscheinlich habt ihr alle schon mal irgendwo mein Gesicht gesehen. Ist ja auch kein Wunder, da das Foto „Guerillero Heroico“ von Alberto Korda das am häufigsten abgedruckte Motiv der Welt ist. Ihr findet mich auf T-Shirts, Buttons, Rucksäcken, Fahnen, Postern und vielem mehr. Aber wieso eigentlich? Was macht mich zu einer derart gut zu vermarktenden Figur? Um Euch diese Fragen zu beantworten, gebe ich Euch einen kleinen Einblick in meine Geschichte.
Ich wurde am 14. Juni 1928 in Rosario in Argentinien als Sohn von Besitzern einer Mateplantage geboren. Mit zwei Jahren hatte ich meinen ersten Asthmaanfall – eine Krankheit die mich noch den Rest meines Lebens begleiten sollte. Ich bin früh mit politischer Arbeit konfrontiert worden, da sich regelmäßig spanische Exilanten, die vor Franco nach Südamerika geflohen waren, in unserem Haus trafen. Die ersten richtigen Inspirationen und die Notwendigkeit der politischen Betätigung fand ich während meiner vielen Reisen durch Südamerika. Ich habe mein Medizinstudium in Buenos Aires immer wieder unterbrochen, um mir diese Reisen zu ermöglichen und war immer wieder von der unfassbaren Ungerechtigkeit und dem Elend dieser Welt ergriffen. Mit den Jahren habe ich zunehmen die Notwendigkeit erkannt, etwas unternehmen zu müssen, damit sich etwas ändert. Das wurde mir schon damals klar. Dennoch schloss ich vorerst mein Studium ab und promovierte im Jahr 1953 in Medizin und Chirurgie.
Nach Abschluss meines Studiums begab ich mich wieder auf Reisen und besuchte unter anderem Bolivien, Peru, Panama und Costa Rica, wo ich zum ersten Mal auf Revolutionäre traf, die am Sturz des von den US-Imperialisten unterstützen kubanischen Diktators Batista arbeiteten. Unmittelbar danach reiste ich nach Guatemala, wo ich zum ersten Mal meine geliebte Hilda traf, die ich später heiraten sollte. Sie vermittelte mir erste konkrete theoretische Grundlagen für meinen späteren politischen Werdegang. Sie war Wirtschaftswissenschaftlerin, Mitglied der Alianza Popular Revolucionaria Americana (Amerikanische Revolutionäre Volksallianz) und arbeitete in Guatemala für die neue Regierung, die dort Landwirtschaftsreformen und Verstaatlichungen durchgesetzt hatte. Sie entfachte in mir die Begeisterung für den Marxismus, nach dessen Vorbild ich meine späteren Handlungen ausrichtete.
Kein halbes Jahr nach meiner Ankunft in Guatemala marschierten dort von den USA bezahlte Söldner ein und installierten eine neue Regierung, um ihre wirtschaftlichen Interessen zu wahren. Wieder wurde mir klar, dass der Imperialismus vor keiner Schweinerei Halt machte und sich aller notwendigen Mittel bedienen würde, um den Rest der Welt in Ketten zu halten und auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung seinen Reichtum weiter anzuhäufen. Viele meiner Freunde wurden verhaftet. Ich jedoch konnte ein Visum nach Mexiko erhalten und verschwand kurz darauf nach Mexiko-City, wo ich wenige Zeit später, zum ersten Mal meinen langjährigen Weggefährten Fidel Castro kennenlernen sollte. Fidel, der mit einigen anderen Exilkubanern eine bewaffnete Revolution plante, um Batista zu stürzen, das US-Kapital aus Kuba zu vertreiben und seine Heimat in Freiheit und Selbstbestimmung sehen wollte, konnte mich davon überzeugen, ihn und seine Guerillagruppe als Expeditionsarzt zu begleiten. Konkreter wurde es, als wir Anfang 1956 eine militärische Grundausbildung begannen. Fidel war damals sehr beeindruckt von meinen Leistungen und meiner Motivation. Mehrfach rügte er seine Genossen dafür, dass ein asthmatischer Ausländer mehr Leistung, Disziplin und Kampfeswille aufbrächte, als sie alle. Leider wurden wir nach einigen Wochen von der mexikanischen Polizei entdeckt und landeten allesamt im Knast. Das war damals ein Rückschlag, der uns jedoch nicht aufhalten sollte. Nachdem wir frei waren, machten wir uns direkt an die Vorbereitung zur Überfahrt und brachen kurze Zeit später mit insgesamt 82 Revolutionären auf der kleinen Motoryacht „Granma“ Richtung Kuba auf.
Als wir Kuba am 2. Dezember 1956 erreichten, waren die Truppen Batistas jedoch bereits vorgewarnt und dezimierten uns im Gefecht auf lediglich zwölf Personen. Geschwächt und verwundet konnten wir uns in die Berge der Sierra Maestra retten, mussten jedoch abwarten, bis wir wieder gefechtsfähig waren. Wir nutzten die Zeit, um Unterstützung in der Landbevölkerung zu suchen, die wir auch fanden. Sie versorgten uns mit Nahrung und versteckten uns in ihren Häusern, einige schlossen sich uns an. Nachdem wir uns ausreichend regeneriert und reorganisiert hatten und die ersten Überfälle und Hinterhalte planten, wurde ich wegen meines Einsatzes und taktischen Verständnisses zum Comandante befördert und führte unsere 2. Kolonne an. Die Taktiken und Notwendigkeiten des Guerillakampfes habe ich später auch verschriftlicht. Bis heute sind sie Werkzeug revolutionärer Guerillagruppen. Trotz extremer zahlenmäßiger Unterlegenheit konnten wir nach zwei Jahren des Kampfes den Sieg erringen. Dies ist nicht zuletzt der Aufopferung und Unterstützung der Landbevölkerung Kubas zu verdanken, die durch ihre praktische Solidarität unseren Kampf erst ermöglichte.
Batista flüchtete am 1. Januar 1959 ins Ausland und die Revolution war siegreich. Die Gerechtigkeit hatte Einzug auf Kuba erhalten. Die Revolutionäre, insbesondere Fidel und Raúl, die vor der Revolution wenig Orientierung in Bezug auf die Gestaltung der Gesellschaft nach dem Sieg hatten, waren insbesondere durch mein Wirken und ihre Begeisterung für meine Moral und Disziplin zu Marxisten herangewachsen. Für meine Leistungen und meine Rolle in den vergangenen Jahren wurde ich kurze Zeit später zum „geborenen kubanischen Staatsbürger“ ernannt. Als Teil der neuen Regierung, die das Ziel verfolgte, den Sozialismus aufzubauen, wurde ich Industrieminister und Leiter der kubanischen Zentralbank. Ich habe die vollständige Verstaatlichung der kubanischen Wirtschaft angestrebt, um der individuellen Bereicherung der Großbürger ein Ende zu bereiten. Außerdem war ich gegen die Lohndifferenzierung nach Leistung, da ich der Meinung war, dass diese nur individualistische Tendenzen und unsolidarisches Verhalten fördern würde, anstatt die Menschen zu Moral und Altruismus zu erziehen. Weiterführend habe ich als Industrieminister viele Kreditvereinbarungen und Handelsverträge mit bspw. China, der Sowjetunion, der DDR und der VR Korea erwirkt. Ich versuchte immer die Solidarität als höchste Maxime meines persönlichen Handelns zu sehen und habe, trotz meiner Position in der Regierung, diese nicht ausgenutzt, um Vergünstigungen oder ähnliches zu erhalten. Im Gegenteil: Ich habe mich immer als Mann des Volkes gesehen, bin zu Arbeitseinsätzen auf dem Land gefahren und habe versucht ein möglichst einfaches Leben zu führen.
Eines meiner Hauptziele war die Industrialisierung Kubas und damit einhergehend mehr wirtschaftliche Eigenständigkeit unserer Nation. Als Fidel auf Druck der Sowjetunion diese jedoch aufschob und die Zuckerrohproduktion weiter an erste Stelle der kubanischen Wirtschaft stellte, brachen wir miteinander. Ich sah mich nicht weiter in der Politik, auch weil ich von vielen Seiten stark kritisiert wurde und sich viele meiner Handlungen als Minister – vermutlich wegen meines fehlenden Wissens und fehlender Erfahrung im Wirtschaftswesen – im Nachhinein als falsch erwiesen hatten.
Ich bin deswegen 1965 von meinen politischen Ämtern zurückgetreten und habe mich wieder dem bewaffneten Kampf gewidmet. Ich reiste mit einigen Genossen in den Kongo, um die dortigen Befreiungsbestrebungen innerhalb des Bürgerkriegs zu unterstützen, der vor allem von Belgien und der CIA manipuliert wurde. Einerseits aufgrund fehlender Vorbereitung und Organisation, der extrem undurchsichtigen Situation im Land, andererseits jedoch wegen der besseren Kenntnis der Armee bezüglich der Guerillataktik, schlug dies jedoch fehl und ich kehrte wütend und enttäuscht nach Kuba zurück. Jedoch nur, um kurz darauf nach Bolivien weiterzureisen, um dort meine Guerillaerfahrung zu nutzen und die dortige Bevölkerung bei ihrem Befreiungskampf zu unterstützen.
Jedoch blieb die erwartete Unterstützung weitestgehend aus, was ich auch auf die fehlende Kommunikation mit der Bevölkerung zurückführe, wie wir sie in Kuba beispielsweise durch das Radio Rebelde praktiziert hatten. Außerdem spalteten sich die bolivianischen Kommunisten – mit denen wir im Vorfeld gegenseitige Unterstützung verabredet hatten – und verloren somit ihre Schlagkraft und kämpferische Moral. Bei einem Gefecht am 8. Oktober 1967 in den Bergen Boliviens wurde ich schließlich verwundet und gefangen genommen. Männer der CIA versuchten mich in den darauffolgenden Stunden zu verhören und am nächsten Tag wurde ich auf Geheiß des bolivianischen Präsidenten René Barrientos Ortuño exekutiert.
Ich habe mit meinem Leben und Sterben für viel Inspiration gesorgt und großen Teilen der Linken auf der ganzen Welt als Vorbild gedient. Jean-Paul Sartre bezeichnete mich als „vollständigsten Menschen unserer Zeit“ und ich wurde vom Time Magazine zu einem der 100 einflussreichsten Menschen des 20. Jahrhunderts ernannt. Es gibt viele Lieder über mich und viele Guerillabewegungen haben sich meine militärischen Taktiken angeeignet. Weit über Südamerika hinaus ist mein Name fast schon gleichbedeutend mit den Worten Widerstand und Emanzipation. Mein Leben wurde mehrfach verfilmt und meine Tagebücher und diverse andere Aufzeichnungen wurden in großer Auflage verkauft. Meine Rezeption eines „neuen Menschen“, ohne Luxusansprüche , sondern mit moralischen Idealen und Selbstdisziplin, wird auf Kuba und bei vielen Marxisten auf der ganzen Welt bis heute hochgehalten. Du findest auf Kuba überall Zitate von mir an den Wänden, mein Gesicht auf riesigen Plakatwänden und die Jugend wird dazu angehalten, sich mein Lebenswerk zum Vorbild zu nehmen. Ich habe in meinem Leben sicherlich viele Fehler gemacht und hatte Ansichten, die für heutige Verhältnisse als rückschrittlich bezeichnet werden können, wie zum Beispiel meine Sicht auf Homosexuelle oder meine Fokussierung auf die USA, als einzige Ursache allen Übels. Andererseits wird, wie über jeden anderen Revolutionär, natürlich auch viel Quatsch verbreitet, um meiner Person und unseren Ideen zu schaden.
Ich denke, dass man von mir einiges lernen kann. Ich habe in meinem Leben so viel gesehen, erlebt und immer für eine bessere, eine gerechte und freie Welt gekämpft. Hinterfragt immer kritisch und haltet nicht an veralteten Dogmen fest, sondern ermöglicht eine fortschreitende Verbesserung unserer Strategie und Taktik. Es ist immer wichtig, dass wir unsere Theorie und Praxis auf neue gesellschaftliche Umstände anwenden und weiterentwickeln. Nur so können wir revolutionär sein. Denn die Welt und die Unterdrückung entwickeln sich fortwährend weiter, so müssen auch wir uns weiterentwickeln und die Zustände fortwährend neu analysieren und bewerten. Ihr solltet euch in jedem Fall mal ausführlich mit meinem Leben und Wirken beschäftigen. Revolutionäre Grüße an die Massen in ihrem täglichen Kampf für Selbstbestimmung, Arbeit und Brot!“
„Das wars auch schon, Genosse. Schlaf gut und beweg deinen Arsch morgen auf die Straße. Wer ein Revolutionär sein will, hat niemals frei.“. Mit offenem Mund lege ich mich wieder ins Bett und fange jetzt schon an zu glauben, dass das ganze nur ein Traum war und ich die letzten Tage wahrscheinlich einfach zu viel in seinen Tagebüchern geblättert habe.
Dieser Artikel ist von Danny. Hier geht es zu weiteren Artikeln von ihm.
Das Bild stammt von Mark Scott Johnson.