Es ist Mittwoch, neun Uhr morgens. Ich bin völlig fertig. Nicht, weil ich so verdammt früh aufstehen musste, ein Akt der mir in Deutschland nur schwerlich möglich gewesen war, nein, ich bin noch immer wach. Total verschwitzt, total verpeilt, total durch. Weiße Schweißflecken zeichnen meine Kleidung. In einer Hand ein Eis haltend, in der anderen, betont weg vom Eis haltend, eine kubanische Flagge. Auf Halbmast natürlich. Nein, dies ist keine epische Suffgeschichte, sondern Teil einer Liebesgeschichte, meiner Liebe zu einer Idee, einer Idee von einer besseren Welt, von der Revolution.
Zwei Tage zuvor, Montagmorgen um sieben klingelt der Wecker in unserer Unterkunft an der CUJAE, der technischen Uni von Havanna. Brutal aus dem Schlaf gerissen und von einer eisigen Dusche wach geprügelt, mache ich mich auf dem Weg zu einer Kundgebung vom ICAP, dem Institut für Völkerfreundschaft. Ich erhalte einen „Fidel por siempre“-Aufkleber und klebe ihn mir auf mein T-Shirt. Kaum ist die Kundgebung vorbei, geht es zur längsten Schlange Kubas. Ihr habt vielleicht schon den Artikel gelesen. Die gefühlten 15 Sekunden, die ich innerhalb des Jose Martí Denkmals verbringe, lösen ein seltsame Mischung von enttäuschten Erwartungen und doch berührt sein aus. Mein Fidel-Aufkleber hat die Strapazen nicht überstanden und sich abgelöst. Schade, sah gut aus. Kaum draußen ist es bereits Abend, mein Hunger wird immer quälender. Glücklicherweise wohnt eine Freundin ganz in der Nähe, drückt mir nach dem Essen noch leckeren, selbst gemachten Joghurt in die Hand. Irgendwann nach einer mehr als einstündigen Busfahrt mit zwischendurch Umsteigen, war ich wohl gegen zwölf im Bett, nur nur um bereits um 6 Uhr wiederholt geweckt zu werden. Sprachkurs. Wir können uns kaum auf den Kurs konzentrieren, entscheiden, ihn vorzeitig abzubrechen und zur CUJAE zurückzukehren, um von dort wieder gemeinsam zum Plaza de la Revolución zu fahren. Dabei standen wir erst gestern dort in besagter Schlange. Die Masse an Menschen, die sich nun auf dem Platz versammelt, geht über mein Fassungsvermögen hinaus. Stundenlang warten wir. Stundenlang prasseln die Worte von Staatschefs aus aller Welt auf uns herab. Meine Waden schmerzen, ich habe Hunger, muss dringend ein Bad aufsuchen, aber ich stehe es trotzdem durch.
Die Busse bringen uns zurück zur CUJAE und die Mensa leistet Überstunden, um uns mit kostenlosen Mahlzeiten einzudecken. Es ist zwei Uhr nachts. Um 3:30 Uhr soll es nochmal zurück in die Innenstadt für eine weitere Aktion gehen. Der Plan, noch ein weiteres Mal die beschwerliche Busreise in die Innenstadt auf sich zu nehmen, zumal nach einer derart kraftraubenden Aktion und der verführerischen Aussicht auf mein nur wenige Meter entferntes Bett, erscheint mir als wenig sinnig.
Ich fahre zurück. Es ist inzwischen kühl geworden. Wir hocken auf dem kalten Bordstein der mehrspurigen Straße des Malecóns, mit Blick auf die Mauer und dahinter, bereits durch einzelne Lichtstrahlen erhellt, das Meer. In wenigen Stunden – es war notwendig, Stunden vorher zu kommen, um einen guten Platz zu sichern – wird hier die Karawane vorbeifahren, die die Urne Fidels zu seiner Beisetzung in Santiago geleitet. Es werden kubanische Flaggen verteilt. Ich bekomme auch eine. Mein aufkommender Stolz wird schnell heruntergekühlt mit dem Hinweis, sie bitte auf Halbmast zu senken. Dann endlich passiert etwas. Erst ein großer Transporter beladen mit Journalisten, dann ein Jeep, noch ein Jeep, oh da ist die Urne und da, war das Raúl? Ja das war er! Es ist vorbei. Fast schon so etwas wie Verzweiflung breitet sich aus. Das war es.
Und doch entstand etwas ganz Besonderes. Als ich auf die Urne wartete, war ich nicht der Fremde, als der ich ständig in Kuba wahrgenommen wurde, nein, ich war Teil dieser Menschen, die sich versammelten um einen besondere Person wertzuschätzen und seine Ideen, die nicht nur seine Ideen sind, sondern getragen werden von einem großen Teil der kubanischen Gesellschaft und eine Hoffnung für die gesamte Menschheit darstellen. So wie das heutige Kuba Produkt dieser Ideen ist, so war dieser Mensch, Fidel, selbst Produkt der kubanischen Gesellschaft – Produkt der großen Vordenker Martí, Marx und Lenin, Produkt des langen Kampfes für ein unabhängiges Kuba. Was er tat, musste so getan werden, weil es richtig, weil es notwendig war zu tun. „Yo soy Fidel!“, hört man ständig. Ich bin Fidel. Die Revolution ist nicht Werk eines einzelnen Mannes, sondern ein Mann wurde zum Symbol der Revolution der Millionen. Ein Mensch, dessen Leben Teil des Herrlichsten auf der Welt wurde. Etwas, wofür viele Menschen ihr Leben gelassen haben und das erst mit dem letzten lebenden Menschen enden wird: dem Kampf um Befreiung. Patria o Muerte.
Mit einem leckeren Eis im Bauch, das ich mir am Kiosk der CUJAE als Belohnung für den langen Tag gegönnt hatte, schlafe ich schließlich irgendwann gegen 10 Uhr morgens ein. „Yo soy Fidel“ bedeutet auch Verantwortung. Nicht auf große Anführer muss gewartet werden, sondern jeder Einzelne ist in der Verantwortung und notwendig für die Weiterführung des Kampfes, denke ich noch. Wenige Stunden später wache ich wieder auf, ich muss zu unserem Projekttreffen.
Dieser Artikel ist von Martin. Hier geht es zu weiteren Artikeln von ihm.