Unser Autor Maximiliano hat im September 2015 drei Wochen Urlaub in Indonesien gemacht. Genau ein Jahr später, im September 2016, ist er mit der neuen Gruppe des Proyecto Tamara Bunke in Kuba angekommen. Nun, nach den ersten drei Wochen auf der Karibikinsel, zieht er einen Vergleich aus seinen Erfahrungen zwischen zwei Welten, die sich auf den ersten Blick sehr ähnlich sehen, bei genauerem Hinsehen jedoch kaum unterschiedlicher sein könnten.
Bali Magic
Malerische Strände, tropische Wälder und überfüllte Straßen, auf denen nichts mehr Spaß macht als sich mit dem Motorroller durch die Lücken zwischen hupenden Autos zu schlängeln – das ist Bali. Als Tourist kann man auf einer der größten Inseln Indonesiens auch für wenig Geld ein sehr gutes Leben führen. Egal, wohin man fährt, was man essen möchte und welche Ausflüge man unternimmt, arm wird man als deutscher Urlauber hier nicht. Tatsächlich habe ich über die Zeit meines Aufenthaltes auf der indonesischen Insel eine sehr sorglose Zeit erleben können und tägliche neue Erfahrungen gesammelt, die mich begeistert haben. Ein Freund, der sich auf Bali niedergelassen hat und den meine Mitreisenden und ich dort besucht haben, nannte dieses Gefühl, gar nicht mehr weg zu wollen, Bali Magic.
Nicht alle Touristen wagen dabei den Blick über den Tellerrand der Surfkurse und der riesigen Großraumdiskotheken im Partyviertel der Hauptstadt Denpasar. Den Blick, der offenbart, was hinter der Fassade der Insel steckt, dessen Anteil am Bruttoinlandsprodukt zu über 40 Prozent mit Tourismus erwirtschaftet wird. Nicht zu hinterfragen, wo der Luxus, den man sich als Tourist dort gönnen kann, eigentlich herkommt, kann man jedoch zu Recht als Ignoranz bezeichnen. An jeder Straßenecke in den touristischen Gegenden ist mir die vollkommene Übersättigung des Marktes für Dienstleistungsangebote und Ramschwaren entgegengeschlagen. Sobald ich aus dem Hotel nur einen Fuß auf die Straße gesetzt hatte, standen Indonesier vor mir, die mir Angebote machten. „Motorbike?“ – „Transport?“ – „Ladys?“ – „Marihuana?“ (Auf Cannabiskonsum steht, nebenbei bemerkt, in Indonesien die Todesstrafe.)
Jeder Weg, den ich durch die Touri-Gegend gemacht habe, fand unter ständiger Begleitung durch Menschen statt, die unbedingt Geld mit mir verdienen wollten. Vorbei an den immergleichen Läden, die die immergleichen Bali-Tanktops, Flip-Flops und gefälschten Ray-Bans verkauft haben. Anfangs habe ich mir stets Mühe gegeben, Angebote freundlich und dankend abzulehnen. Schon nach drei Tagen lagen meine Nerven jedoch derart blank, dass ich wie mit Scheuklappen auf gar keine Ansprache mehr reagiert habe. Ohne eine gewisse Ignoranz könnte manch einer es schwer haben, an solchen Orten Balis einen unbeschwerten Urlaub zu erleben. Allerspätestens dann, als mich die offensichtlich zweideutigen Angebote („Massage? Massage?“) von Mädchen am Straßenrand erreicht haben, die – wenn überhaupt – die vierzehn Jahre vollendet hatten, hat sich meine Perspektive auf Bali als Urlaubsort geändert. Mir wurde klar, dass Bali Magic kein Gefühl ist, das alle Menschen dort empfinden können. Es ist an meine Privilegien gebunden, die ich als Tourist mitbringe und die Möglichkeit, jederzeit wieder nach Hause zurückkehren zu können, anstatt mit allen Mitteln um die eigene Existenz kämpfen zu müssen.
Eine Mafia namens Polizei
Mit diesem Blick über den Tellerrand des Paradieses haben meine Mitreisenden und ich nicht wenige Situationen erlebt, die die Not und das Elend vieler auf Bali lebender Menschen offenbart haben. Auch gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Touristen und Indonesiern scheinen keine Ausnahme zu sein, wie wir anhand von einigen Schlägereien auf offener Straße beobachten konnten. Als deutlich dramatischer jedoch habe ich das Ausmaß organisierter Kriminalität empfunden. Diese wird von der indonesischen Polizei nicht bekämpft, sondern selbst betrieben. Ein kleiner Ratgeber: Wenn Du, liebe Leserin, lieber Leser, einmal mit dem Roller in Bali unterwegs bist und zehn Polizisten vor Dir stehen und den Weg versperren, dann weiche ihnen aus und gib Gas. Sollten sie es trotzdem geschafft haben, Dich anzuhalten, ziehe sofort den Schlüssel ab, verstecke ihn in Deiner Hosentasche und tu so, als würdest Du kein Wort Englisch verstehen. Andernfalls wird ein Polizist Dir den Schlüssel wegnehmen – und ihn Dir für viel Geld zurück verkaufen. Das gleiche gilt im Übrigens auch für Deinen Pass oder Deinen Führerschein. Wenn Dir das alles trotzdem passiert ist, sei sicher, dass Du genügend Geld für die Auslöse Deines Schlüssels dabei hast, denn sonst darfst Du zu Fuß nach Hause gehen, Geld holen und erst dann bezahlen. True Story.
Nun könnte man für solch krasse Formen dessen, was man in Deutschland wohl organisierte Beschaffungskriminalität und Korruption nennen würde, die Räuber und Polizisten persönlich verantwortlich machen. Das wäre, finde ich, jedoch ziemlich kurz gegriffen, denn die Handlungen von Menschen – egal welcher Art – finden niemals allein aufgrund individueller Entscheidungen des Einzelnen, sondern immer im Kontext eines Systems und den damit verknüpften Bedingungen statt, unter denen die Menschen leben. Gerade für junge Menschen scheinen die Möglichkeiten, sich selbst und gegebenenfalls noch eine Familie bereithalten zu können, prekär: Die Arbeitslosenquote unter den 15 bis 24-Jährigen schwankt stark (2000: 19,9%; 2005: 32,4%; 2011: 22,2%), das Bruttonationaleinkommen pro Kopf lag 2013 bei nur 3.475 US-Dollar pro Kopf (zum Vergleich: in Deutschland lag es 2013 bei 46.268 US-Dollar, Quelle: Weltbank) und das Durchschnittseinkommen ist dementsprechend gering. Diese Zustände könnten eine Erklärung dafür sein, dass sich Korruption, Erpressung sowie ein illegaler Markt von Dienstleistungen herausgebildet haben. Unser in Indonesien arbeitender deutscher Freund hat meinen Begleitern und mir das anhand eines Beispiels erklärt: Waren, die er mit seiner Firma an Abnehmer im Ausland geschickt hat, kamen so lange entweder zerstört oder gar nicht beim Empfänger an, wie er der Lieferung kein zusätzliches Bargeld beilegte. Auf diese Art und Weise verschaffen sich die Mitarbeiter der Hauptpoststelle in der indonesischen Hauptstadt Jakarta einen Zuverdienst, auf den sie zum Überleben angewiesen sind.
Diese Systemabhängigkeit der Zwänge, unter denen die Menschen eines Landes ihr Leben gestalten (müssen), ist vielleicht auch ein wesentlicher Grund dafür, dass meine Erlebnisse auf Bali sich so sehr von denen in Kuba unterscheiden. Das paradiesische Flair einer Tropeninsel zwar teilen sich diese beiden Orte; sie nehmen sich in der Reichhaltigkeit ihrer Vegetation, der Vielfalt ihrer urbanen und ländlichen Gebiete und der Schönheit sonnengefluteter Sandstrände mit tiefblauem Meerwasser einander nicht das Geringste. So sehr sich Stadtbild und Natur beider Inseln jedoch ähneln, so verschieden ist das, was auf ihren Straßen passiert.
Eine andere Welt…
Keine Frage – auch die kubanische Volkswirtschaft ist zu einem nicht geringen Teil vom Tourismus abhängig. Dies wird zunehmend bemerkbar, je weiter man sich etwa der Altstadt von Havanna, Habana Vieja, nähert. Hier preisen Einzelhändler und Dienstleister ihre Waren an, wollen in kleine Papierkegel eingewickelte, geröstete Erdnüsse verkaufen oder Leute mit dem Taxi oder der Rikscha durch die Gegend fahren. Angesprochen wird man natürlich gerade dann, wenn man, wie ich, in seiner Touristenuniform aus dem letzten Urlaub – Tanktop, Flipflops, Sonnenbrille – unterwegs ist. Und ich wäre nicht ehrlich, wenn ich verschweigen würde, dass ich mir manchmal verarscht vorgekommen bin, als mir in der Nähe des großen Hotels „Habana Libre“ jemand versucht hat, eine drei Peso-Münze (im Wert von ca. 12 Eurocent) für umgerechnet einen US-Dollar zu verkaufen, weil auf die Rückseite der Kopf des weltweit viel vermarkteten Genossen Ché Guevara geprägt ist. Wahrscheinlich ist es einfach das Los, das man als reicher Ausländer in einem armen Land gezogen hat, als potenzielle Gelegenheit wahrgenommen zu werden, schnell an Geld zu kommen.
Entscheidend sind für mich jedoch erstens das Ausmaß und zweitens die Mittel, mit welchen Touristen hier auf ihr Geld angesprochen werden. Vielleicht wäre ich schnell genervt, vielleicht hätte ich viel schneller unwirsch reagiert, wenn ich nicht bereits erfahren hätte, wie viel verschärfter es in anderen Teilen der Welt zugehen kann. Klar, auf seine Zahlungskräftigkeit reduziert zu werden, ist sicherlich niemals angenehm. Aber Havanna unterscheidet sich in dieser Frage so grundlegend von Denpasar, dass mir der Vergleich tatsächlich schwerfällt. Sicher wäre es für Dich, liebe Leserin, lieber Leser, spannend, wenn ich Raubüberfälle in Kuba mit denen in Bali vergleichen und die Taktik der Polizeimafias einander gegenüberstellen könnte. Aber ich kann es nicht. In Havanna ist es durchaus möglich, einen weitgehend ungestörten Tagesspaziergang vom Malecón aus durch die Innenstadt zu machen und allenfalls hin und wieder mal „Taxi?“ oder „Cigarro?“ zugerufen zu bekommen.
Gewiss jedoch hat auch Kuba spezifische Erscheinungen von Kriminalität gegenüber Touristen. Überfälle sind schon zwei Teilnehmern aus unserem Projekt widerfahren, denen dabei Wertgegenstände auch entwendet worden sind. Deutlich häufiger kommt es zu Taschendiebstählen, die jedoch glücklicherweise gewaltfrei verlaufen. Vor allem in den Bussen, die meist voll wie eine Sardinenbüchse sind, ist es verhältnismäßig einfach, anderen Menschen ihre Wertsachen abzuluchsen, sofern diese sie offen mit sich herumtragen. Hierzu gibt es ein paar Tricks, die recht wirksam dem Verlust von Wertgegenständen vorbeugen können: Hand in die Hosentasche, in der sich das Handy befindet und – noch besser – alles in den Rucksack packen und den auf den Bauch schnallen. So machen das übrigens auch die Kubaner.
Was mir jedoch im Bus viel häufiger passiert ist, waren Verwicklungen in wirklich aufrichtig interessierte Gespräche mit Kubanern. Als mitteleuropäischer Exot sticht man im Bus optisch zwangsläufig hervor und wird von vielen Blicken gemustert. Da kommt es nicht selten mal vor, dass eine ältere Dame oder auch jüngere Leute einfach mal fragen, was man denn in Kuba eigentlich so macht. Und wenn ich dann erzähle, dass ich über einen längeren Zeitraum zum Studieren da bin, wird man erst recht gelöchert und es kommt zu netten Unterhaltungen, die mit dem Aussteigen aus dem Bus genauso spontan wieder enden, wie sie begonnen haben. Und – Überraschung – mein Handy ist noch immer in meiner Hosentasche, obwohl ich den beiden Omas vor mir unbeholfen gestikulierend und in gebrochenem Spanisch versucht habe zu erklären, was das Proyecto Tamara Bunke ist.
Kubas Magie
Während meinen Spaziergängen durch Havanna, auch zu späterer Stunde nach irgendwelchen Partys in Playa auf dem Nachhauseweg, hatte ich ein Gefühl, dass ich auf Bali in denselben Situationen häufiger vermisst habe: Sicherheit. Ich kann mir sicher sein, dass ich unbehelligt heim komme, dass kein Polizist versucht, mich zu erpressen und dass mir tatsächlich geholfen wird, wenn ich mich verlaufen habe und nach dem Weg fragen muss. Vielleicht ist das Kubas Magie; sich in einem Teil der Welt zu befinden, in dem auch sich fremde Menschen trotz vieler Widrigkeiten einander Grenzen, Respekt und einen solidarischen Umgang bewahren.
Es wäre unsinnig, nach jeweils gerade einmal drei Wochen die Ursachen für die Unterschiedlichkeit meiner Erlebnisse in Bali und Kuba erklären zu wollen. Dafür ist diese Zeit einfach zu kurz und mein Wissen über all die wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge zu gering. Es ist jedoch eindeutig, worum es bei der Touristenjagd, dem Raub und der Erpressung durch die Polizei geht: um Geld. Je größer die Not eines Menschen, desto größer auch dessen Bereitschaft, anderen Menschen zum eigenen Vorteil zu schaden. Ich kenne den Kapitalismus aus Deutschland. In Indonesien habe ich ihn von einer weiteren Seite kennengelernt und gesehen, was er in einem wirklich armen Land anrichten kann. Doch ob es wirklich der Aufbau des Sozialismus auf Kuba ist, der die Verhältnisse hier so anders erscheinen lässt? Zumindest die Gesichter der Menschen sprechen eine Sprache: allerspätestens das aufgesetzte, Mitleid erregende Lächeln einer vierzehnjährigen Prostituierten am Straßenrand von Denpasar. So etwas ist mir in Kuba nicht begegnet. Und dafür bin ich diesem Land schon jetzt unendlich dankbar.
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