Vor einiger Zeit habe ich mich bei dir, Havanna, bedankt, für das Dach, dass du mir seit einer Weile über dem Kopf, in deinem Viertel Cerro, gegeben hast. Du hast Cerro richtig ins Zentrum deiner Viertel gestellt, so dass man von hier aus fast überall hinkommen kann. Vor einiger Zeit hast du sicherlich mitbekommen, was in meinem Straßenviertel passierte. Das war nichts schlimmes, aber das gehört halt dazu, wenn man hier wohnt. Genau gesagt war es am 15. Mai, an einem Sonntag gegen zwei Uhr nachmittags, an dem ich lautes Quieken von Schweinen hörte. Von der Terrasse aus, war fast alles zu sehen. Drei Männer, inklusive meinem Nachbarn haben über 20 Minuten versucht das gut gebaute Schwein, mit Seil ums Maul gebunden, über den Hof Richtung Straße zu ziehen. Alle drei Männer mussten jede Minute eine Pause machen, weil das Schwein nicht zu bewegen schien und laut quiekte. Es wurde zum Schlachthof mitgeschleppt. Du weißt Bescheid über die Schweinezucht von meinen Nachbarn?
Ich sage dir in einigen Hinterhöfen sind kleine Betriebe, in denen die Leute Sachen herstellen. Ich sehe das alles. Klar, viele sind angemeldet. Manche haben in ihrem Barrio etwas in Betrieb, in allen Richtungen wird gearbeitet.
Lass mich, bevor du über Produktionsweisen erzählst, über die zweite Aktion von meinem Nachbarn erzählen. Das war wieder an einem Sonntag, am 19. Juni. Ich wurde um neun Uhr geweckt. Ehrlich gesagt, meine Ohren taten vor lauter Gequieke weh. Mein Nachbar hat wieder mit zwei Männern im Hinterhof die seit Monaten gut gefütterte Sau nach draußen geschleppt, weil auf sie ein Auto wartete, da für sie die Schlachtzeit gerufen hat. Heute ist ein großer Tag. 19. Juni! Tag des Vaters. Es wird gefeiert bis nichts mehr geht. Rum, Schweinefleisch, Musik, Zigarren und wenn es klappt dann zum Playa. Ich war aufgestanden, sah meinen Vermieter (der „abuelo“ (Opa) ist) auf der Terrasse. Er hat mir sofort zum Vatertag gratuliert: „¡Felicidades!“ Von unten hörte ich meine Vermieterin: „¡Felicidades!“ Mit meinem Cafesito und meiner Zigarette bin ich auf die Terrasse. Mein Vermieter hat gleich einen Planchao (kleines 200 ml Rumtütchen) aufgemacht und wir haben es mit Café gemischt und mit Zigaretten dazu und uns Minuten lang über den Tag des Vaters unterhalten.
Ab heute sind nur noch vier Ferkel im Hinterhof meines Nachbarn, in einem sehr sauberen Stall übrig geblieben. Und noch etwas ist anders. 30 Meter weiter in meiner Nachbarschaft auf dem Dach, das wie eine kleine Betriebshalle gebaut ist, läuft meistens ab 23.00 Uhr die Arbeit. Was wird dort jeden Tag gemacht? Ein paar Männer arbeiten bis drei, vier Uhr morgens. Bis vor kurzem habe ich nicht gewusst, was auf dem Dach los ist. Neulich habe ich erfahren, dass dort Eis hergestellt wird. Auch Eis als Biskuit. Das Produzierte wird an viele Kioske in vielen deiner Viertel geliefert und jeder kann dort Eis mit Erdbeer-, Schokoladen-, oder Mango Geschmack haben. Das habe ich auch später getestet und es schmeckt gut und hygienisch ist es auch gemacht. Wegen der Tageshitze wird hier meistens nachts gearbeitet. Der Betrieb arbeitet legal und mit Lizenz.
Und deine Nachbarin, von der du öfters Fisch kaufst, hat einen Sohn, der drei Straßen weiter einen Fischladen hat, in dem die Mutter beim Weiterverkauf des Fischs hilft. So läuft halt alles.
Ich habe zwei Mal bei der Mutter Fisch eingekauft. Es wird aber kein drittes Mal geben. Die Fischfilets sind eingefroren, sehr gute Filets, aber wenn man sie auftaut und zubereitet und in der Pfanne brät, dann brechen die Filets auseinander. Das bedeutet, dass die Filets nicht ganz frisch sind und wenn sie bei der Mutter ankommen aufgetaut sind und ein zweites Mal, mit neuer Verpackung, eingefroren werden. Fisch kann man nur einmal auftauen, danach muss man ihn zum Essen zubereiten und ein Fischfilet oder ganzer Fisch darf beim Braten in der Pfanne nicht auseinander brechen. Deswegen hat es bei mir kein drittes Mal Fischfilet von der Nachbarin gegeben.
In anderen Straßenvierteln von Cerro, im Barrio Canal, läuft in Hochtouren die Produktion von Wein. In einigen Garagen, die wie Betriebe gebaut sind, wird guter Wein aus Mais, Reis, und Trauben hergestellt.
Hast du die mal getestet?
Ja habe ich, sie schmecken echt gut. Alle haben eine Lizenz um etwas herstellen zu dürfen.
Klar, viele haben die Lizenz etwas herzustellen, zu produzieren oder zu reparieren. Seit über acht Jahren haben wir aus verschiedenen Gründen in ca. 214 Berufszweigen Lizenzen für den Privatsektor (cuenta propia) verteilt. Aber es gibt welche, die in verschiedener Weise Schwarzmarkt betreiben. Zum Beispiel auch bei dir, wo du wohnst, wird von manchen Leuten in geringerer Menge Rum mit verschiedenen Geschmacksrichtungen hergestellt.
Der Schuhmacher, der in der Nähe von mir wohnt, arbeitet mit einer Lizenz. Durchschnittlich hat er am Tag acht Schuhe zu reparieren. Für jede kleinere Reparatur bekommt er 30 bis 40 Pesos Cubanos (etwa 1,80€). Im Monat produziert er zusätzlich ungefähr acht neue Schuhe. Die neuen Schuhe verkauft er durchschnittlich für ungefähr 12CUC (etwa 11,80€). Im Monat hat er einen Umsatz von bis zu 400CUC (etwa 380€). Materialkosten (die sehr teuer sind) und Steuer wird abgezogen. So verdient er Monat etwa 280CUC Netto. Steuer bezahlt er pauschal im Monat nur 100 Pesos Cubanos (etwa 4CUC), egal wie viel er im Monat verdient. Er ist zufrieden. Sonntags und montags hat er Ruhetage, an denen er meistens schläft und arbeitet die restlichen Tage jeweils ungefähr 10 Stunden. Er hat einen „Einmannbetrieb“. Ich glaube, wenn es so weiter geht mit den vielen Reparaturen, dann muss er einen Mitarbeiter einstellen. Seine Werkstatt ist in seinem Haus im Erdgeschoss und er bezahlt lediglich sehr geringe Strompreise. Über 95% der Schuhe die er repariert, sind Frauenschuhe.
Ja, tatsächlich, wer eine Lizenz für seine Arbeit bekommen möchte, der bekommt diese auch. Aber manche möchten den kurzen, bürokratischen Weg des Lizenzantrages nicht gehen und bleiben weiterhin im Schwarzmarkt. Mit den Wirtschaftsaktualisierungen der letzten Jahre, haben sich viele tausende Cubaner selbstständig gemacht und manche, die nicht viel Geld haben, unterstützen wir mit Kleinkrediten. Das alles sind für uns neue Erfahrungen, die in vielen Hinsichten auch Probleme mit sich ziehen, z.B. Zwischenhändler, die es nicht geben darf, existieren und betreiben ihr schwarzes Geschäft ohne Lizenz, was dazu führt, dass viele Materialien teuer werden, weil die kleinen illegalen Zwischenhändler dazwischen ihre Geschäfte machen.
Cerro ist eigentlich produktiv, es werden auch in einigen kleinen Betrieben sehr gute Schuhe hergestellt. Ich habe dort auch mal Schuhe gekauft. Wie ich es dir letztes Mal in unserem Gespräch gesagt habe, fühle ich mich hier in Cerro sehr wohl, weil ich einfach Teil des Viertels bin und hier familiäre Verhältnisse pflege.
Über den Industriesektor in verschiedenen Vierteln bei dir haben wir ein wenig gesprochen. Lass mich über eine der größten Drogeriefabriken, die es bei dir auf der Insel gibt, die nur 30 Minuten Fußweg zu meiner Straße liegt, kurz ein paar Sätze sagen. „Suchel Camacho“ nennst du diese Fabrik. Hier wird alles was Drogerieprodukte angeht hergestellt. Für ganz Cuba wird von hier aus Seife, Waschmittel, Spülmittel, Shampoo, Parfüm etc. geliefert. Seit vielen Jahren werden auch bei Suchel Camacho viele Produkte mit Naturmitteln produziert, die eine pflanzliche Basis beinhalten. Mir gefallen am besten die verschiedenen Produkte der Bereiche Parfüm und Shampoo Sortimente, die es überall auf deiner Insel in Supermärkten oder in kleinen Kiosken zu kaufen gibt. Suchel Camacho liefert auch überall auf der Insel Drogerieprodukte an Hotellerien, Kneipen etc. Die Fabrik ist 100% kubanisch. Neulich habe ich zum ersten Mal gesehen, dass spanische Shampoos auf manchen Supermarktregalen stehen.
An dieser Stelle möchte ich dich, Havanna, etwas über Spanien fragen. Sag mir bitte doch, ob du böse auf Spanien bist, weil es dich Jahrhunderte lang kolonialisiert, erniedrigt und versklavt hat und tausende junge und alte Menschen, wie José Martí, Antonio Maceo, Maximo Gomez und Juan Delgado ermordet hat. Hast du dich mit Spanien versöhnt? Ja, sagst du, sonst hättest du nicht so viele kulturelle, politische und wirtschaftliche Abkommen mit ihm gemacht. Spanien hat dir in der Kolonialherrschaft über 400 Jahre sehr weh getan. Ich finde es super, dass du vergeben kannst. Du hast gute Beziehungen mit verschiedenen Regionen in Spanien. Mit Katalonien, dem Baskenland und Andalusien läuft es gut. Ich sag dir etwas, über das du auch sicher Bescheid weißt.
Wusstest du, dass Cádiz deine kleine Schwester ist? Sie liegt genau in Süd- West- Andalusien am Atlantik. Was für eine Schönheit findest du dort. Gaditanos (die Menschen aus Cádiz) nennen ihre Stadt klein Havanna. Ich sehe, wie du, Havanna, dich freust und darauf stolz bist, dass dein Name in aller Munde ist. Alles was du hier hast, hat auch deine kleine Schwester dort. Sogar deinen Malecón gibt es dort. Genau das gleiche, aber kleiner. Die Architektur, die du von deinen Vierteln über die Vieja, das Centro bis Cerro nach Municipio Boyeros darstellst, hat deine kleine Schwester Cadiz auch. Eroberer wollten damals genau das haben, was sie Zuhause auch hatten. Die Kneipen, die Gassen, alles was du dir vorstellst. Cadiz hat mir sogar erzählt, dass sie seit vielen Jahren mit dir eine Partnerschaft hat. Seid ihr verliebt in einander?
Ja du, die Schwestern können sich auch verlieben. Ja das alles und noch mehr Beziehungen mit Spanien sind einfach schön, solange diese Beziehung auf Augenhöhe ist und kein einseitiges Diktat, dass auf Respektlosigkeit basiert. Hier möchte ich erwähnen, dass Spanien die meisten Solidaritätsgruppen auf der Welt hat, die sich für uns einsetzen. Die linken Bewegungen aus Spanien unterstützen uns vor allem sehr solidarisch. Ich bin jedoch immer noch auf die PP (Partido Popular) in Spanien sauer, weil diese Partei seit dem sie existiert, genau wie zur Zeit des spanischen Faschismus, besonders nach der Revolution von 1959 hier bei mir, eine unfaire Haltung und eine Blockade Politik in Europa gegen mich durchführt. PP, Teile der Sozialdemokraten in Spanien, sowie Anhänger des Königshauses in Madrid, setzen weiterhin eine Blockade und eine reaktionäre Politik in der EU gegen mich durch. Ach ja, jetzt wurde die PP seit der letzten Wahl von Ende Juni dieses Jahres von vielen spanischen jungen und alten Wählern nach 70 Jahren bestraft und sie hat viele Stimmenverluste hinnehmen müssen.
Aber etwas möchte ich auch über Cádiz sagen. Damals während des großen Krieges, hier bei mir, der 30 Jahre lang von 1868-1898 gedauert hat und sich gegen die spanische Herrschaft richtete, hat Spanien im Jahr 1871 José Martí, der gerade 18 Jahre alt war, festgenommen, ihn als gefährlich eingestuft und nach Cádiz deportiert und ihn für viele Jahre dorthin verbannt, weil er in der Schule ein Gedicht geschrieben hat, das die Ehre der spanischen Besetzungsmacht verletze. 24 Jahre später haben Spanier ihn, als er 42 Jahre alt war, in „Dos Rios“ bei Santiago de Cuba getötet. Martí war damals am Unabhängigkeitskampf gegen die Besatzer beteiligt.
Jetzt kommen wir zurück nach Cerro. Parque Santo Tomas, 10 Minuten zu Fuß von meiner Wohnung, haben die Spanier zu Zeiten der Sklaverei, Sklaven in Barracon (Einrichtung für Sklavenunterkünfte) Einsiedeln lassen. Neben Barracon, die heute nicht mehr zu sehen sind, ist damals Iglesia (die Kirche) gebaut worden, um die schwarzen Sklaven zu christianisieren und zu „guten“ Katholiken zu bekehren. Sie besteht noch heute. Caballedera (der Pferdestall) war neben Barracon. Es gibt ihn noch, jedoch restauriert als Wohnungseinrichtung mit einem großen Garten. Du hast Cerro in sechs große Straßenviertel unterteilt. Reparte la Caña, canal, Pa latino, Carraguo, Re Parto Martí und Atare. Hier in Cerro wohnen 175.000 Menschen. Mitte des 18. Jahrhundert ist der Grundstein für Acueducto, Canal und die zentrale Wasserversorgung für dein ganzes Municipio von Cerro aus bis zu deiner Vieja, deinem Centro, Vedado und Marianao gelegt worden. Deswegen sagst du, „Cerro tiene la llave del agua“ (Cerro besitzt den Schlüssel zum Wasser). Eine weitere Einrichtung, die Cerro einen Namen macht, ist die Ciudad Deportiva. Das Stadion mit seinen Einrichtungen veranstaltet internationale Sportbegegnungen. Neulich war ich dort. Die nationale Junioren US-Volleyball Mannschaft hat eine Begegnung gegen die nationale Junioren Mannschaft Kubas gehabt. Rate mal wer gewonnen hat!
Das weiß ich, davon habe ich gehört!
Ja, Kuba hat 3:2 gewonnen. Was für einen Jubel gab es nach dem Sieg. Nach dem Spiel haben einige deiner Söhne und Töchter in deinem Stadion mir mit großem Stolz erzählt, dass es klasse sei, dass wir, eine kleine, winzige Insel mit nur 11 Millionen Einwohnern, gegen eine große Nation, die über 260 Millionen hat spielen und auch siegen können. Ich sehe, wie deine Kinder glücklich sind. Wenn ich sie im Kindergarten,in der Schule oder auf der Straße spielen sehe wirken sie auf mich wie die fröhlichsten Kinder der Welt. Eine weitere Wichtigkeit in Cerro ist das Estadio Latinoamericano. Hier finden immer nur Baseballspiele statt. Wir wollen bald mit allen Projektsteilnehmern hin, weil Ende August die nationalen Baseballspiele begonnen haben. Schauen wir mal, wer dieses Jahr die Nationalmeisterschaft erreicht.
Lass mich bitte auch kurz über „muchas portales“ (die vielen Vorhallen), die in deinem Cerro stehen, erzählen. Von deinem Centro durch ganz Cerro bis nach Marianao stehen an den Straßen entlang, jeweils auf beiden Straßenseiten, bis über 8 km, ohne Unterbrechung, Portale, die dem britischen und spanischen Architekturstil entsprechen. Ehrlich gesagt, wenn ich Millionär wäre, was ich zum Glück nicht bin, würde ich ganze Millionen für die Restauration und Renovierung der Portale in deinem Stadtviertel Cerro spenden. Und noch was, Cerro ist wie du und Boyeros 500 Jahre alt. Was willst du noch Havanna?! Alt und jung, schön, strahlend, freundlich, kämpferisch, bunt in allen menschlichen Farbrichtungen, charmant und geduldig bist du. Du hast alles. Bleib wie du bist. Tue, was dir gefällt. Mach, was deine Söhne und Töchter gerne haben möchten, die mit dir diese Errungenschaften mit viel Mühe und Aufopferung bewahrt haben. Bleib stolz, wir haben dich gerne. Danke für deine Zeit, für deine Informationen, die du mir mitgeteilt hast. Wir sehen uns sicher bald wieder. Das war heute echt eine lange Unterhaltung mit dir. Danke dafür. Ich möchte mich gerne irgendwann einmal mit dir über das Municipio Santiago de Las Vegas unterhalten. Danke, dass es möglich ist.
Komm, eine Umarmung!
„Es gibt weder große Entdeckungen noch wahren Fortschritt, solange noch ein unglückliches Kind auf der Welt ist.“
Albert Einstein
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Toller, spannender Artikel. Erinnert mich an meine Zeit in Kuba. Rum und Zigarren gibt es zu jeder Zeit an jeder Ecke, nicht nur am 19. Juni… 🙂 Aber ja, an diesem Tage wird wirklich ausgiebig gefeiert…