Mein erster Tag in Cuba, ich warte in der Stadt auf eine Bekannte, um mit dieser zusammen zum Strand zu gehen. Da werde ich angesprochen, woher ich komme, meine Antwort: „Deutschland“, die Reaktion: „Deutschland ist toll, ihr habt dort alles was ihr euch wünscht, alle eure Wünsche sind erfüllt und es gibt keine Probleme“.
Zweiter Tag in Cuba, ich treffe mich mit einem Bekannten zu einem Spaziergang. Nach einer langen Weile fragt er mich schüchtern, ob er mir eine Frage stellen darf, natürlich darf er.
Er hörte, dass in Deutschland alle Toiletten automatisch funktionieren, sobald sich der Hintern hebt, wird automatisch gespült, Klobrille und Kloschüssel werden automatisch gereinigt und alle Reste entfernt. Ob das stimmt fragt er mich.
Eine andere bekannte Person in Cuba sagt mir, wie viel Glück ich habe, in Deutschland zu leben, schließlich bekämen in Deutschland alle, die nicht arbeiten, einfach so Geld vom Staat und es gäbe dort somit ja keine Armut.
Natürlich gibt es noch mehr Bilder von Deutschland, die mir hier in meinem Alltag begegnen: Alle Straßen in Cuba seien dreckig und kaputt wohingegen alle Straße in Deutschland sauber und gepflegt seien; alle Frauen seien ohne Rundungen und Figur; außerdem seien alle Deutschen gemein, weil sie so eine fiese Vergangenheit mit Hitler haben; letztendlich seien wir auch alle sehr ernst, mensch kann mit uns nicht sprechen, wir seien einfach seltsam, mit einem komischen Charakter, immer schlecht drauf…
Bilderwechsel
Was für Bilder lösen die Worte Cuba und Cubaner*in(1) eigentlich in meinem Kopf aus?
Klar ist ja wohl, dass in Cuba überall und ständig Salsamusik und Reggaeton gehört wird und sich grundsätzlich alle unglaublich toll dazu bewegen können. Alle Cubaner*innen rauchen Zigarren oder zumindest wohl Zigaretten. Da es in Cuba immer heiß und immer Sommer ist, außerdem Strand, Meer und Palmen so nah sind und Cubaner*innen ja auch gerne und viel Rum trinken, ist es selbstverständlich, dass diese immer lachen und gut drauf sind. Oder?
Naja… letztens war ich auf einer Veranstaltung, dort fand ein Rapkonzert statt, im Nachbar-Tanzraum lief Elektromusik, mein Nachbar hier hat eine Vorliebe für laute US-amerikanische Popmusik (am liebsten am Wochenende morgens um 8 Uhr) (siehe auch „Neuer Hip-Hop im Alten Havanna“. Es gibt hier also auch andere Musikrichtungen, die tatsächlich gehört werden. Auf Zigarettenschachteln hier sind gesundheitliche Warnhinweise, z.B.„Schütze deine Gesundheit und die der anderen. Rauche nicht“. Ich wurde darauf angesprochen, dass so viele Deutsche rauchen würden. Eine bekannte Person von mir, die nicht raucht, ist nur eine der vielen, die ich schon kennenlernte. Diese Woche lernte ich im Geographieunterricht, dass einer der größten Trugschlüsse über das Klima in Cuba ist, dass es hier immer warm sei. Wenn’s dann doch mal nur 4°C im Winter sind wurde das wohl schon vielen Tourist*innen zum Verhängnis…
Und wie ist das so im „Paradies“ Deutschland?
Ich habe recherchiert, aktuelle Zahlen sagen, dass in Deutschland etwa eine halbe Million Menschen obdachlos sind. Wenn eine Person z.B. in Berlin im Kaufhaus des Westens shoppt, mag sie solche Zahlen nicht glauben. Geschäfte machen ihre Eingangbereiche extra ungemütlich, damit sich dort keine Obdachlosen niederlassen und sich somit nicht vor Wettereinflüssen schützen können. Und können alle Menschen, die in Deutschland sozialisiert wurden, behaupten, dort mit maximal 399€ monatlich von ALG II ein erfüllendes Leben zu führen?
Mir ist bewusst, dass diese Bilder und Worte, die ich auswähle und schreibe, sehr schwarz-weiß, plakativ, verallgemeinernd, voller Klischees und pauschalisierend sind. Aber haben wir nicht alle immer wieder genau solche „einfachen“ Bilder im Kopf? Und führt es nicht allzu häufig dazu, dass wir die Realität, die doch so komplex ist, nicht wahrnehmen (wollen) und statt dessen bei unseren einfachen Bildern verbleiben? Es ist sehr schwierig und manchmal ungemütlich, die Perspektive der Wahrnehmung zu wechseln. Und wenn wir dann so, mit unseren Bildern im Kopf, woanders hin kommen, ist es einfach, nur zu einfach, genau diese Bilder bestätigt zu bekommen.
Gehe ich ins Zentrum von Habana Vieja (Altstadt Havannas), dann höre ich tatsächlich überall Salsamusik und sehe Cubaner*innen dort unglaublich toll tanzen. Ich sehe das Rummuseum und wie wichtig Rum und Zigarren für dieses Land sind und die Menschen hier prägen. Ich kann das „easy life“ am Strand beobachten und leben, mit einem Cocktail in der Hand.
Aber es gibt überall Parallelgesellschaften, die, ohne jegliche Gemeinsamkeit zu haben, die gleiche Staatsbürgerschaft haben.
So gibt es Cubaner*innen, die sich eine Mahlzeit ohne Fleisch nicht vorstellen können, aber ich durfte auch schon einen Vegetarier kennen lernen, der mich mit seiner Rezeptegruppe bekannt machen will. Es gibt Stadtteile, in denen die Straßen von Menschen wimmeln, die ihre Zeit draußen verbringen, auf den Straßen mit Schlaglöchern einen Tisch aufstellen und Domino spielen. Aber es gibt auch diese mit schön gepflasterten Straßen, es gibt Menschen die lieber Zeit vor ihrem Flachbildfernseher verbringen und die neusten US-amerikanische Serien schauen. Es gibt die Punks, die sich in ihrem Park treffen und mit Salsamusik gar nichts am Hut haben, die Familie die am Wochenende zum Picknick in einen Park fährt, Menschen, die den Strand gar nicht mögen. Es gibt diejenigen die die Provinz, in der sie leben, noch nie verlassen haben weil sie dazu keine Möglichkeit hatten und diejenigen, die mir von all den verschiedenen wundervollen Orten in Cuba berichten, die sie gesehen haben und die ich unbedingt besuchen müsse…
Aber bin ich denn auch wirklich bereit, meine Augen zu öffnen für das Andere? Für das, das meinen Bildern und Vorannahmen widerspricht? Bin ich bereit, Widersprüche zuzulassen, die mich nachdenklich machen, zum Grübeln bringen, mein Weltbild auf den Kopf stellen und verschieben? Bin ich bereit, sowohl Dinge wahrzunehmen, die mir gefallen als auch welche, die mir nicht gefallen und meine Bilder in Frage stellen?
„Reisen veredelt wunderbar den Geist und räumt mit all unseren Vorurteilen auf. “ (2) schreibt Oscar Wilde. Peter Hille ergänzt „Vorurteil! Das Wort ist nicht übel, wollte nur das Urteil nachkommen. “ (3)
Ich will versuchen, bei meinem Aufenthalt mit meinen Vorurteilen aufzuräumen, will versuchen, erneut zu urteilen, will Widersprüche zulassen auch wenn sie mir fast jeden Tag erneut Kopfschmerzen verursachen. Ich nehme mir vor, nicht nur die Zigarre rauchende Cubanerin und das alte Auto zu fotographieren, sondern auch die Anti-Zigarettenwerbung und die Neuwagen, die hier auf den Straßen fahren. Ich will nicht nur Bestätigung suchen für die in Deutschland gehörten Aussagen, dass alle Cubaner*innen so arm seien, weil sie in einem sozialistischen Land ohne Menschenreche und Pressefreiheit leben müssen. Sondern ich werde auch diese Stimmen und Menschen wahrnehmen, die froh sind, in diesem Land zu leben, die sich hier freier fühlen, als sie es sich irgendwo anders auf der Welt vorstellen können.
Dieser Artikel ist der Erste von Julie.
(1) Um diesen Text geschlechtsneutral zu verfassen wird das Gender-Sternchen aus der Queer-Theorie verwendet. Dabei wird nicht nur die weibliche Form als gleichwertige Alternative zur männlichen Form dargestellt, sondern durch das Sternchen wird auch Platz gelassen für all jene, die sich keiner der beiden Kategorien Mann und Frau eindeutig zuordnen können oder wollen (siehe z.B. Fischer, B., & Wolf, M. (2009). Geschlechtergerechtes Formulieren. HERRliche deutsche Sprache? http://www.uni-graz.at/uedo1www_files_geschlechtergerechtes_formulieren-4.pdf)
(2) Oscar Wilde: Die bedeutende Rakete / ein kleiner Zünder
(3) Peter Hille, Aphorismen, in: Gesammelte Werke, herausgegeben von Friedrich Kienecker (et al.), Band 5: Essays und Aphorismen, 1986
Pingback: „Warum gibt es in Havanna nicht mehr Busse?“ – Ein kleiner Einblick in das Mobilitätssystem Havannas | Eine Andere Welt ist möglich
Bin gespannt was noch kommt 🙂
Hoi Julia,
liebe Grüass vom Bodensee.
Ich habe die ersten 40% deines artikels gelesen, dann ging mir die Luft aus.
Der Blog sieht übrigens wunderbar aus und ich freue mich auf den nächsten Bericht!
Ich bleibe mit dir in Kontakt – du bekommst email von mir!
LG
Boris
Gut reflektiert!
Ein ganz netter und durchaus wohlwollender Bericht! Allerdings scheint der Schreiber dieser Zeilen vom Sozialismus nicht die Spur einer Ahnung zu haben. Er macht den Unterschied beider Ordnungen (der BRD und Cubas) lediglich an Äußerlichgkeiten fest. Daß aber der gesellschaftliche Fortschritt, der sich in einem gesetzlichen gewährleisteten Recht auf Arbeit, in einem kostenlosen Gesundheitswesen, in einem hochentwickelten Bildungssystem, in fehlender Obdachlosigkeit usw. manifestiert, in erster Linie der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und der Herrschaft der Proletariats zu verdanken ist, das „übersieht“ der Verfasser geflissentlich. Cuba ist ein sozialistisches Land – hoffen wir, daß es so bleibt!
Hat dies auf Netzwerk Kuba Österreich rebloggt.