Zwang zu Vegetarismus, Gartenbau und langen Wanderungen – Berichte aus der Spezialperiode
„So dünn waren wir damals“. Katherine hält die Hand in die Luft, zur Faust geballt und spreizt den kleinen Finger ab. „Schließlich sind wir überall mit dem Fahrrad hingefahren“. Der Ventilator rattert, doch der Schweiß steht uns auf der Stirn. Eigentlich haben wir beide schon längst andere Verabredungen, das hält uns aber nicht davon ab noch einen Kaffee von nebenan zu holen und ich höre Katherine gebannt zu. Sie erzählt mir von ihren persönlichen Erlebnissen während der Spezialperiode auf Cuba, von der Stimmung im Land und von ihrer Familie. Sie ist ein Kind der Revolution, sagt sie. In den 60er Jahren geboren, ist sie in der Blütezeit des cubanischen Sozialismus aufgewachsen. „Damals, in den 80ern, haben meine Eltern nur ein Drittel von dem verdient, was wir heute bekommen und trotzdem sind wir als Familie ein Mal die Woche ins Restaurant gegangen.“ Eine ähnliche Geschichte erzählt mir Alejandro, ein pensionierter Anwalt. Er und seine Frau hätten damals in den 70ern ein großartiges Leben geführt. Jedes Jahr konnten sie in die schönsten Hotels in den Urlaub fahren, konnten sich viele schöne Dinge leisten und haben es sich gut gehen lassen. Heute haben sie ihr Haus in eine Casa Particular umgebaut und vermieten Zimmer an Touristen. „Obwohl wir heute unseren eigenen kleinen Betrieb haben, können wir noch lange nicht so gut leben wie damals!“ Und das muss was heißen, denn die Besitzer von Casas Particulares werden nicht selten als die neue Oberschicht der cubanischen Bevölkerung bezeichnet.
Bis zur Unselbstständigkeit geholfen
Cuba war 1972 dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) beigetreten, der Zusammenschluss der sozialistischen Länder der Welt um sich gegenseitig zu unterstützen, eine internationale Arbeitsteilung zu etablieren und wirtschaftlich zusammenzuarbeiten. Zehn Jahre zuvor waren sie auf Druck der USA aus der Organisation amerikanischer Staaten (OAS) ausgeschlossen worden, die Wirtschaftsblockade wurde verhängt und sollte in Cuba „Hunger, Elend und Verzweiflung erzeugen und so zum Sturz der Regierung beitragen.“(1). Hans Modrow, ehemaliger Ministerpräsident der DDR, schreibt über den Beitritt Cubas zum RGW, dass dies nach Wegfall der politischen und wirtschaftlichen Verbindungen auf dem eigenen Kontinent „eine logische Konsequenz“(2) gewesen sei. Cuba exportierte Zucker und Nickel zu festen Preisen und Abnahmequoten und bekam im Gegenzug vor Allem Öl, Nahrungsmittel und Maschinen geliefert. Es entstand eine extreme Abhängigkeit voneinander, die cubanische Wirtschaft wurde nicht in ihrer Gesamtheit weiterentwickelt, sondern vornehmlich gemäß der Interessen des RGW. Beim Fortbestehen aller Handelspartner wäre das nicht besonders problematisch gewesen, doch war Cuba wirtschaftlich nicht vorbereitet auf den Zusammenbruch der anderen RGW-Staaten. Zwar hatte Fidel schon Ende der achtziger Jahre vorhergesehen, dass der europäische Sozialismus sich nicht mehr lange wird halten können und versucht, die Bevölkerung darauf einzustimmen, doch weder Wirtschaft noch Bewusstsein konnten sich in dieser kurzen Zeit ausreichend vorbereiten. „Wir haben das Laufen verlernt“ beschreibt Alejandro diese Ausgangssituation. Er sagt, sie seien ohne den RGW eigentlich nicht lebensfähig gewesen und keiner wollte in dieser Zeit wahrhaben, was kommen könnte, sobald Cuba auf sich selbst gestellt sein würde.
Weder Export noch Import
Im September 1990 war die cubanische Regierung nach dem Zusammenbruch des europäischen Sozialismus gezwungen, die Spezialperiode in Friedenszeiten auszurufen. Es herrscht eine Ökonomie des Krieges ohne heißen Krieg, das bedeutet Rationierung, Einsparungen und Tagesentscheidung ohne sichtbare militärische Auseinandersetzung auf der Straße. Wenn es in erster Linie darum geht, wie man zur Arbeit kommt oder wie man seinen Magen füllt, ohne dass die Ursache für diese Misere sichtbar ist, kommt es zu einer Zerreißprobe für das Bewusstsein der Bevölkerung.
Die anderen Staaten des für aufgelöst erklärten RGW hatten mit ihren neuen, nichtsozialistischen Regierungen, kein Interesse mehr daran die Verträge aufrecht zu erhalten. Cuba stand 1992 mit mehr als 4 Millionen Tonnen Zucker und mehr als 30.000 Tonnen Nickel da, ohne zu wissen an wen es sie exportieren sollen. Auch Getränke und Zitrusfrüchte wurden damals zu 80% bzw. 95% an die Staaten des RGW exportiert. Cuba musste schon immer viel importieren um zu überleben und so stammten 63% der Nahrungsmittel, 57% der chemischen Produkte und 98% des Treibstoffes die importiert wurden, aus den Staaten des RGW.(3) Es kam zu gefährlicher Knappheit an Nahrungsmittel. Auch wenn sogar Medien, die sich sonst nicht dadurch auszeichnen, dass sie besonders positiv über Cuba berichten, eingestehen müssen, dass es nie Hungersnöte oder flächendeckende Unterernährung gegeben hat. Wer nicht die Möglichkeit hatte, in seinem Hinterhof oder gar in seinem Badezimmer Tiere zu halten, sah nur noch selten Fleisch auf seinem Teller. Es setze sich Soja als wesentlich ökonomischerer Proteinlieferant durch, was bis heute noch seine Spuren hinterlässt. Kaum ein Gericht, das man heute auf Cuba in einem normalen Restaurant bestellen kann, beinhaltet kein Fleisch. Vegetarier werden für verrückt erklärt und belächelt.
Nicht in der Vorlesung sondern auf dem Feld
Aus dieser Zeit stammen auch die landwirtschaftlichen Genossenschaften, die bis heute 28% der landwirtschaftlichen Nutzfläche des Landes kultivieren und die Organopónicos, die städtischen Gärten, die man überall in den Innenstädten auf kleinen Flächen, zwischen Hochhäusern und anstatt von Hinterhöfen sehen kann. So sollten Transportwege verkürzt und die Versorgung mit Gemüse und Obst wieder stabilisiert werden(4). Die meisten Schulen, Universitäten und Arbeitszentren entwickelten ihr autonomes Versorgungssystem. Katherine erzählt, dass es einen Turnus gab, in dem die Professoren an der Uni von ihren Lehraufträgen befreit wurden, um sich um die Anbauflächen hinter der Uni zu kümmern, die für die Versorgung der Mensa für Studierende und Angestellte eingerichtet worden waren.
Der Mangel an Treibstoff bestimmte das Leben: „Wir sprachen damals von Stromeinfall, statt Stromausfall“ erzählt mir Katherine. Sie hätten im Sommer in ihren Gärten geschlafen, weil es ohne funktionierende Ventilatoren in den Häusern nicht auszuhalten gewesen wäre. Wer pünktlich zu Arbeit kommen wollte, ist noch im Morgengrauen aufgestanden und hat sich an die Straße gestellt, um mit viel Glück einen Platz in einem Transportmittel zu ergattern. „Nicht selten sind wir mit Viehtransporten zur Arbeit gefahren“. Sattelschlepper wurden zu Bussen, so genannten Camellos, umgebaut und haben bedrohlich viele Fahrgäste aufgenommen. Ansonsten halfen nur die eigenen Füße, später gab es Fahrräder aus China.
Der Gnadenstoß
Wie bereits erwähnt, musste die Bevölkerung eine Ökonomie des Krieges durchleben, ohne die Quelle des Elends sehen zu können. Europa war schon immer sehr weit weg gewesen, Cuba war als Insel schon immer eher isoliert. Das erkannte die USA als optimale Schwachstelle und handelte schnell. Bereits 1992 wurde der Torricelli Act beschlossen, die erste gesetzliche Verankerung der seit den 60er Jahren geltenden Wirtschaftsblockade und der Versuch, alle anderen Länder der Welt zu den gleichen Maßnahmen zu bewegen. Cuba sollte mit niemandem mehr handeln können, der auch mit US-amerikanischen Produkten handelt. Gleichzeitig wurden stärker den je Mittel der ideologischen Kriegsführung eingesetzt. Durch die Spezialperiode verzweifelte Cubaner nahmen dankend die hohen Summen an, die die USA ihnen für konterrevolutionäre Aktivitäten zahlten. 1996 wurde dann der Helms-Burton Act verabschiedet. Er legte unter anderem fest, dass Cuba nur aufhören müsse, den Sozialismus aufzubauen, dann würden die USA auch die Wirtschaftsblockade aufheben. Gleiches gilt für die Einschränkung der diplomatischen Beziehungen von Seiten der EU, festgehalten im „Gemeinsamen Standpunkt der EU“. Das Selbstbestimmungsrecht des kleinen Staates sollte vollends aufgehoben werden, obwohl 1995 mehr als 85% der cubanischen Bevölkerung den sozialistischen Charakter der Revolution bestätigten.(5)
Die Stimmung in der Bevölkerung wäre beinahe gekippt. Alejandro sagt, zu dieser Zeit hätte er besonders viel arbeiten müssen. Als Strafverteidiger hätte er ganz genau die Zunahme von Diebstahl, Prostitution und Vetternwirtschaft beobachten können. Sehr viele Menschen haben die Hoffnung verloren, sind ausgewandert – nicht wenige von ihnen in die USA, die sie mit Kusshand empfing.
Auch wenn Che Guevara schon lang nicht mehr lebte und seine Worte sich auf eine ganz andere Epoche der cubanischen Geschichte beziehen, so treffen sie sehr gut, mit welcher Vorstellung die Cubaner diese Zeit dennoch haben überstehen können:
Es geht nicht darum, wieviel Kilogramm Fleisch man isst oder wieviel Mal im Jahr sich jemand am Strand tummeln kann, auch nicht wieviel Luxusartikel aus dem Ausland man sich mit den gegenwärtigen Löhnen leisten kann. Es geht eben darum, dass das Individuum sich erfüllter fühlt, mit viel größerem inneren Reichtum und mit viel größerer Verantwortlichkeit. Das Individuum in unserem Land weiß, dass die glorreiche Epoche, in der zu leben ihm zufiel, eine Epoche des Opfers ist, und es kennt das Opfer.(6)
Die Opfer, die erbracht werden müssen, sind nicht etwa eine notwendige Folge des sozialistischen Gesellschaftssystems. Es ist die Bereitschaft alles zu geben, um Unabhängigkeit zu erlangen, eine Bestrebung die es auf Cuba schon seit den Aufständen des Indios Hatuey zu Kolumbus Zeiten gegen die Herrschaft des katholischen Spaniens gegeben hat. Die Opfer, die notwendig werden, wenn man sich den Angriffen der kapitalistischen Außenwelt nicht ergeben möchte, sondern weiter seinen eigenständigen Weg geht, laufen lernt, wie Alejandro sagt.
In Teil II dieses Artikels wird es darum gehen, wie die cubanische Bevölkerung wieder Laufen gelernt hat und so die schlimmste Zeit der Spezialperiode überwinden konnte.
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(1) Memorandum der US-Regierung vom 6. April 1960
(2) Volker Hermsdorf und Hans Modrow; Amboss oder Hammer, Gespräche über Kuba, Verlag Wiljo Heinen, 2014.
(3) Cantón, Navarro, José C y Silva, León, Arnaldo. Historia de Cuba 1959-1999: Liberación Nacional y Socialismo. Editorial Pueblo y Educación, 2009. S.211.
(4) Dazu mehr bei Volker Hermsdorf; Das Bio-Musterland,junge Welt, 14.02.2013.
(5) Volker Hermsdorf und Hans Modrow; ebd., S.202.
(6) Ernesto Che Guevara, Mensch und Sozialismus auf Cuba, 1965
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