Über Aktualisierungen und Massenentlassungen
Im Stadtteil Vedado von Havanna, nah der angesagten 17. Straße, sitzt John Lennon auf einer Bank – zumindest könnte man das denken, wenn man Nachts aus dem Club „Submarino Amarillo“ (Yellow Submarine) stolpert. Steht man tagsüber vor der lebensgroßen Bronzestatue, erhebt sich ein alter Mann von der Bank nebenan, nähert sich mit langsamen Schritten und setzt John Lennon eine Brille mit den typischen runden Gläsern auf. Das ist sein Job, dafür wird er bezahlt.
Er ist wahrscheinlich einer der 2 Millionen Cubaner, die als unproduktiv* eingestuft worden sind und im Rahmen der Wirtschaftsaktualisierungen andere Beschäftigungen bekommen sollen, wie uns Oscar Martinez in unserem Gespräch mit ihm berichtete. Bei insgesamt 11 Millionen Einwohnern auf der Insel, ist das schon eine schockierende Zahl. Als dieses Vorhaben der cubanischen Regierung bekannt wurde, tönte es in den deutschen Medien, Cuba würde Massenentlassungen durchführen wollen – das ist natürlich Quatsch. Im Kapitalismus wäre das tatsächlich so, denn da sprechen wir von der Anarchie der Produktion, also der Tatsache, dass die Art der Produkte und ihre Mengen, nicht durch die Bedürfnisse der Bevölkerung bestimmt werden, sondern der Profitgier, der Willkür der unternehmerischen Entscheidung entstammen. So trifft die Entscheidung über die Einstellung oder Entlassung von Arbeitern auch ein einzelner Unternehmer, hier ebenfalls willkürlich, getarnt als kontrollierten Akt durch den Markt. An dieser Stelle käme schon der erste Aufschrei aller Mainstream-Ökonomen: Es ist keine Willkür, es sind Angebot und Nachfrage, welche schließlich die Bedürfnisse der Bevölkerung repräsentieren. Ohne jetzt in eine ausführliche wirtschaftswissenschaftliche Debatte abdriften zu wollen, muss an dieser Stelle klar sein, dass im Kapitalismus alles produziert wird, was das Herz begehrt und weit darüber hinaus. Der Mensch braucht aber weder die Auswahl zwischen 27 Bügeleisenmarken, noch zwischen noch mehr Auto- oder Handyherstellern. Es schränkt auch nicht meine Lebensqualität, geschweige denn meine Freiheit ein, wenn ich das gleiche Produkt besitze, wie mein Nachbar – solange es seinen Zweck erfüllt. Mal ganz abgesehen davon, dass nicht Vielfalt und damit Individualismus, sondern viel eher Kategorien wie Funktionalität, Bedienbarkeit und Haltbarkeit eine Kaufentscheidung beeinflussen sollten. Damit wir aber trotzdem regelmäßig Saturn, Mediamarkt und Co die Bude einrennen, wird gesellschaftlich das Bedürfnis nach den Produkten geschaffen, die abgesetzt werden müssen. Nicht zuletzt durch Erfindungen wie Sollbruchstellen, die uns zwingen in einer gewissen Regelmäßigkeit alte Produkte zu ersetzen.
Durch die Gesamtheit aller Produkte, die es auf dem kapitalistischen Markt gibt, werden also garantiert alle Bedürfnisse befriedigt. Jedoch werden sie nicht annähernd zu den Preisen angeboten, die sie für jeden zugänglich machen würden, womit sie in letzter Konsequenz eben nicht die Bedürfnisse decken. In der Mainstreamökonomie zeichnet man dann eine Nachfragekurve, eine Angebotskurve und legt den markträumenden Preis da fest, wo die beiden sich schneiden. Natürlich gibt es dann Verkäufer, deren Produkte nicht gekauft werden weil sie zu teuer angeboten werden und Käufer, die die Produkte nicht kaufen, weil sie nicht bereit sind ausreichend Geld dafür auszugeben. Vielleicht geht es aber nicht um Bereitschaft, sondern um Möglichkeit. Die Möglichkeit lebensnotwendige Produkte zu kaufen, ist schließlich nicht immer gegeben, doch darum kümmert sich der Kapitalismus nicht, denn der soziale Faktor spielt in ihm keine Rolle. Genau so steht es um die Arbeiter. Im Kapitalismus entscheidet das einzelne Unternehmen, dass es den ein oder anderen Arbeiter oder vielleicht auch die paar Tausend nicht mehr braucht, sie damit kurzer Hand auf die Straße setzt und keine weitere Verantwortung zu übernehmen braucht. Im Sozialismus ist der Staat aber verantwortlich für die Bevölkerung als Ganzes und kann sich deshalb seiner „überflüssigen“ Arbeiter nicht einfach entledigen.
Es entsteht viel eher genau das, was wir im John Lennon Park sehen können. Ein Mann geht einer Beschäftigung nach, die wir mit unseren Maßstäben als unnütz einstufen würden, um einen Job zu haben, für den er ein Gehalt beziehen kann. Der Gedanke des Unnützen betrifft nicht nur den Mann, der John Lennon die Brille aufsetzt. Auch die vier Frauen, die an der Tankstelle hinter der Theke stehen, offenbar damit sich drei unterhalten können, während die vierte bedient, auch wenn das bedeutet, dass man manchmal zehn Minuten warten muss, obwohl es keine Schlange gibt. Oder die Männer im botanischen Garten, die jeder den ganzen Tag über ein Drittel eines Gewächshauses wachen, damit nicht jemand aus Versehen einen Kaktus unter der Jacke hinausschmuggeln könnte, und zu dritt sind sie, damit es nicht langweilig wird. So wird es den drei Einparkhelfern vor unserer Uni auch gehen, die für sieben Parkplätze zuständig sind. Oder den zwei Frauen, die auf das Haus aufpassen, in dem wir Unterricht haben. Zu zweit, zu dritt oder zu viert ist man eben weniger allein und das ist nicht unbedingt ein unbedeutender Faktor, wenn es um die Frage geht, wie man ein Drittel seines Tages verbringt.
Aber nur von Gemeinschaftsgefühl wird man nicht satt und das ist das Problem, vor dem der cubanische Staat steht. Mehr Geld muss her und das am liebsten schon gestern. Der Staat hat durch die Wirtschaftsaktualisierungen, die durch einen langen demokratischen Prozess entstanden sind und seit 2011 beinahe jeden Bereich des Lebens betreffen, den notwendigen Schritt getan, um den Sozialismus vor dem Ruin zu retten. Es wurden damals mehr 60% des ursprünglichen Antrags der Partei durch die Bevölkerung geändert, indem mehr als 8 Millionen Menschen in den Nachbarschafts-Komitees, Massenorganisationen so wie Kommunal-, Provinz- und Nationalversammlungen über 780 000 Änderungsanträge gestellt haben. Daraus entstanden die sogenannten „Lineamentos“ die 2011 durch den Parteitag der Kommunistischen Partei (PCC) beschlossen wurden und seitdem als Leitlinien gelten, anhand derer von Kommissionen konkrete Änderung der cubanischen Lebensrealität vorgenommen werden. Von einigen Cubanern werden sie als die einzige Chance angesehen, die aktuelle Situation des Staates zu retten.
Der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten, die Cuba massiv unterstützt hatten und den Großteil ihrer Handelsbeziehungen ausgemacht hatten, die Wirtschaftsblockade und die Terrorangriffe der USA, die Wirbelstürme der letzten Jahre – all das hat die Wirtschaft Cubas zu Grunde gerichtet. Aber es sind nicht nur äußere Faktoren, denn die mangelnde Ausnutzung der vorhandenen landwirtschaftlichen Ressourcen, Fehler in der Planung, geringe Effizienz und Korruption sind alles Probleme von innen, damals wie heute.** Der Staat braucht mehr Geld und so werden überall die Schrauben gedreht. Ob es dabei um die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion, die Reduktion von Gratisleistungen oder die Schaffung einer Freihandelszone geht: das ganze Land ist auf Trab, verändert sich von Tag zu Tag und wir sind mitten drin.
Immer mehr Cubaner berichten stolz, sie seien jetzt „Quenta Propistas“, Selbstständige. Zwei Drittel der ersten Selbstständigen haben sich einfach nur eine Lizenz für ihre bisherige Tätigkeit auf dem Schwarzmarkt geholt – man könnte sagen, Cuba hätte damit den Schwarzmarkt erschlossen. Ein anderer Teil sind Rentner, die sich zu ihrer schmalen Rente etwas dazu verdienen wollen, oder eben diejenigen, die aus ihrem staatlichen Beschäftigungsverhältnis entlassen wurden. Die erste Welle der Entlassungen wurde sehr schnell wieder gestoppt, als klar war, dass die Privatwirtschaft nicht mehr aufnehmen könne. Schlimmer als unproduktiv Beschäftigte wären nämlich massenhaft Arbeitslose. Arbeit gibt es jedoch eigentlich genug, insbesondere auf dem Bau und auf dem Land, was auch hier unbeliebte Beschäftigungen sind. Aber auch andere Berufszweige sind immer wieder unterbesetzt, weil viele sich mit ihren guten Ausbildungen in lukrativere Beschäftigungsverhältnisse, wie zum Beispiel im Ausland oder in den Tourismus flüchten. Arbeitslos ist auf Cuba eigentlich nur derjenige, der sich freiwillig dafür entschieden hat, weil er aus anderen Quellen leben kann, wie zum Beispiel regelmäßige Überweisungen aus dem Ausland. So sind die Arbeitslosen hier auf Cuba nicht immer, wie in Deutschland, das Symbol der Armut sondern das Symbol des Reichtums. Ebenso steht es um die Selbstständigen. Sie sind ein Symbol für Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Reichtum nach dem sich der ein oder andere Cubaner schon lange sehnt. Durch relativ hohe Steuern ist es für die Selbständigen zwar möglich ein eigenes Kleingewerbe aufzubauen, jedoch nicht besonders viel Kapital zu akkumulieren und sich so weit vom Rest der Gesellschaft zu entfernen. Dennoch ist dies natürlich Teil der Realität, es entsteht eine Arbeiteraristokratie mit Privilegien, die dem Rest der Bevölkerung stets ihren relativen Reichtum vor Augen hält. Mein Philosophieprofessor sagt in solchen Fällen immer, dass man nur ein Problem durch ein anderes gelöst hat.
Die Wirtschaftsaktualisierungen bringen ohne Zweifel viele Lösungen in das Land, das mit dem Rücken zur Wand stand. Doch gleichzeitig werden damit von Tag zu Tag neue Probleme aufgeworfen, auf die bis heute keiner eine Lösung weiß. Wichtig zu sehen ist, dass die Bevölkerung erleichtert scheint, endlich die Möglichkeit zu haben ihrer „eigenen Wirtschaft“ nachzugehen und das zugleich die Arbeitsproduktivität und den Reichtum der gesamten Bevölkerung steigert. Für eine bestimmte Zeit ist wichtig ein Ungleichgewicht innerhalb der Gesellschaft zu akzeptieren, um auf lange Sicht wieder Ausgeglichenheit schaffen zu können, die sich auf einem angemessenen Niveau des gesamtgesellschaftlichen Reichtums einpendelt. Wann Cuba die Kurve kriegen wird, weiß keiner, schließlich ist bis heute nicht einmal der erste Fünfjahresplan der Aktualisierungen abgeschlossen. Doch eines ist klar, Cuba wird seine Unabhängigkeit nicht einfach an den Nagel hängen, sondern so lange für das Fortbestehen des Sozialismus kämpfen, wie es nötig ist. Auf dem Boden vor der Statue von John Lennon steht, „Dirás que soy un soñador pero no soy el único” (Du magst vielleicht sagen ich sei ein Träumer, aber ich bin nicht der einzige) – in keinem Land wäre dieser Spruch passender als auf Cuba. Der Traum von einer Welt, in der nicht einige Wenige von dem Produkt der Arbeit Vieler im Luxus leben, geht weiter – denn eine andere Welt ist möglich!
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*Hierbei geht es nicht um produktiv als „etwas produzierend“ oder „an der Produktion beteiligt“ sondern darum, ob mit der Tätigkeit zu der gesamten Produktivität des Landes beigetragen wird.
**Warum wir der Auffassung sind, dass die beschlossenen Maßnahmen kein Beweis für den baldigen Zusammenbruch des Sozialismus sind, wir trotzdem die Augen vor den vielen Gefahren nicht verschließen dürfen, greifen wir sicherlich bald in einem Artikel auf.
Ich wollte schon immer mich in cuba für ein Semester niederlassen und diesen Sozialismus studieren.
Zu dem Artikel.
In jedem Land gibt es Jobs zum Beispiel im Buagewerbe, die niemand machen will. Dass solche Posten besetzt werden, geht offensichtlich nur mit dr Bezahlung. Es gibt eben Leute auf dieser Erde, die unliebsame Jobs für mehr Geld doch machen. dies ist ein Problem des Sozialismus. Wenn daher Fassaden zu renovieren sind, und dies ist sehr anstrengend und man macht sich dreckig, so ist mit einem größeren Gehalt so mancher bereit, dies in seiner Jugend oder bis 30 zu tun, wenn er mit dem mehrverdienten Geld sich ein Auto kaufen könnte.
Wenn einer ein Grundstück hat oder einen Pachtzins an den Staat in Form von so und so viel kg Tomaten zahlt, so muß er den Mehrertrag für sich nutzen können, verkaufen usw. , sonst wird er sich nicht mehr als notwendig anstrengen. Es muß eine Belohnung für die Mehranstrengung geben. Das ist ein menschliches Grundgesetz.
Wenn ich in Cuba mehr Geld als Ausfräumfrau im Touristenhotel bekomme, warum soll ich dann um fast nichts im Monat Ingenieur auf der Eisenbahnstrecke arbeiten.
Das ist die Richtung, die die Kubanische Politik gehen kann, um keine Mangelerscheinungen zu generieren, und jeden Tag gehen so und soviel Arbeitsstunden durch Plaudereien verloren, die total unproduktiv sind aber amüsand. s braucht daher einen aufgeklärten Sozialismus.
Reinhard
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