Erfahrungen aus erster Hand – Ein einstündiger Besuch im Krankenhaus
Rückblick: 28.09.2014
Es ist spät abends, aber wir beschließen noch etwas zu kochen. Bei dem Versuch eine Kokosnuss mit dem Taschenmesser zu öffnen, hacke ich mir in den kleinen Finger. Da der Schnitt ziemlich tief ist, beschließen wir in die Krankenstation unserer Uni, der CUJAE, zu gehen. Sie hat 24 Stunden geöffnet und es arbeiten dort zwei Krankenschwestern, ein Krankenpfleger und ein Arzt. Insgesamt gibt es 120 solcher medizinischen Beratungsstellen (Consultorios) auf Cuba, die an Universitäten, großen Betrieben und Internaten zu finden sind. Sie ersetzen im Grunde genommen das, was am Wohnort der Familienarzt ist – die erste Anlaufstelle bei medizinischen Anliegen. Zu so später Stunde ist allerdings nur noch eine Krankenschwester da, die meinen Finger sehr genau betrachtet und sagt, dass er genäht werden muss. Kurzerhand ruft sie einen Krankentransport uns zum nächsten Krankenhaus bringt. Dort geht alles ganz schnell, zwei Ärzte gucken sich meinen Finger an, desinfizieren ihn, fragen wie und wann das Ganze passiert ist und nähen ihn. Der Krankentransportfahrer hatte gerade einen Parkplatz gefunden, als wir schon wieder vor ihm standen. Keine Stunde nach dem Unfall sind wir wieder in unserem Zimmer und gucken zusammen einen Film.
Gesetzliche Grundlagen
Ich bin ganz schön fasziniert von dem cubanischem Gesundheitssystem und frage mich, warum es so gut funktioniert, obwohl Cuba finanziell so schwach ist. Also erkundige ich mich bei Julián, er ist ursprünglich Leiter des Netzwerks zur Befreiung der Cuban 5 gewesen und ein Mann mit vielen Erfahrungen, wie er selbst gern betont. Er hat davor 20 Jahre im medizinischen Sektor gearbeitet und kann mir deswegen viel über die Struktur und die Grundgedanken des cubanischen Gesundheitssystems erzählen. Am wichtigsten ist sicherlich, dass in Cuba der Mensch im Mittelpunkt steht und so in der Verfassung in den Artikeln 43 und 50* zu lesen ist, dass alle Menschen die gleiche und kostenlose Behandlung in allen Einrichtungen des Gesundheitswesens erhalten müssen, unabhängig von der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Religion, der nationalen Herkunft. Das bemerkenswerte hierbei ist wohl zum einen, dass das Gesundheitswesen für alle kostenlos ist und zum anderen, dass es wirklich allen gleichermaßen zugänglich ist. Auch ich werde ohne Probleme behandelt, obwohl ich kaum Spanisch spreche, kein cubanischer Staatsbürger bin und nicht mal eine Krankenversicherung habe. Ich werde weder nach meinem Ausweis, noch nach irgendwelchen anderen Papieren gefragt, sondern ausschließlich deshalb behandelt, weil ich eine Verletzung habe.
Das 3-Ebenen-System
Ein weiteres Erfolgsgeheimnis ist das 3-Ebenen-System. Die Basis sind die medizinischen Beratungsstellen und die Familienpraxen, danach kommen die Polikliniken und zum Schluss die Krankenhäuser und Spezialkliniken
1. Ebene: medizinischen Beratungsstellen und die Familienpraxen
Normalerweise ist eine Praxis für 120 Familien in einem Wohngebiet zuständig, wir haben die in unserem Nachbarwohngebiet bereits besucht – auch wenn eigentlich die Erstversorgungsstelle der CUJAE für uns zuständig ist. Wir wollten von der Hausärztin, die dort arbeitet wissen, wie ihr Alltag aussieht. Sie erzählte uns, dass sie am Vormittag Sprechstunde hat und in dieser Zeit 5 bis 10 Patienten zu ihr kommen. Am Nachmittag macht sie Hausbesuche. Jeder Cubaner und jede Cubanerin muss ein Mal im Jahr zu seiner Familienpraxis gehen, die meisten tun dies aber viel öfter. 14.074 solcher Praxen gibt es auf der Insel. Unsere Ärztin arbeitet sehr eng mit der nahegelegenen Apotheke zusammen und so ist der Medikamentenbestand genau auf die Bedürfnisse des Wohnviertels abgestimmt. Als eine Freundin eine Erkältung hatte, bekam sie dort ihre Medikamente und musste jeden Tag ein Mal zum Inhalieren vorbei kommen. Die Medikamente sind nicht hübsch verpackt und es gibt auch nicht die gleichen Präparate von verschiedenen Firmen zu verschiedenen Preisen. Anfangs verwunderte uns das, aber wozu braucht man Werbung, Konkurrenz und Profitgedanken im Gesundheitswesen? Auf den Rezepten und Medikamentenverpackungen steht „El sistema de salud en Cuba es gratuito pero costa.“ (Das cubanische Gesundheitssystem ist gratis, aber es kostet). Ja, das stimmt. Selbst wir als ausländische Studierende mussten noch nie etwas für eine Behandlung bezahlen, die Medikamente in den Krankenhäusern waren ebenfalls kostenlos und die aus den Apotheken sehr sehr günstig. Die Bevölkerung geht – wie oben beschrieben – gern zum Arzt und nimmt auch gern die günstigen Medikamente in Anspruch, aber diese kosten natürlich etwas in der Produktion und so ist ein sehr bewusster Umgang gefragt. Deshalb steht auf der Rückseite der Rezepte eine Aufstellung der durchschnittlichen Kosten für ein paar ausgewählte medizinische Leistungen, um der Bevölkerung eine Idee davon zu geben, welche Summen hinter den „mal eben“ in Anspruch genommenen Maßnahmen stehen. Auf der anderen Seite verfolgt der cubanische Staat das Prinzip der Prävention und versucht so Krankheiten frühstmöglich zu erkennen und im Keim zu ersticken. Aus diesem Grund werden nicht nur alle Einwohner gegen 13 Krankheiten geimpft, sondern alle Menschen mit hohem Ansteckungsrisiko isoliert, um eine Ausbreitung zu verhindern. Diese ganzen Maßnahmen kosten natürlich Geld, aber sie retten Menschenleben. So ist die Lebenserwartung von 76 Jahren die höchste Lateinamerikas und die Säuglingssterblichkeit mit 0,45% die niedrigste.
2. Ebene: Polikliniken
Rückblick: 06.10.2014
Das Haus, in dem wir sonst wären ist noch abgeschlossen und so sitzen wir alle gemeinsam im Garten unter Palmen. Das einzige nervige sind die Moskitos, die uns einfach nicht in Ruhe lassen wollen. Gegen Mittag fühle ich mich immer wackliger auf den Beinen, mir tut alles weh und mein Kopf wird immer heißer. Die anderen zwingen mich irgendwann ins Consultorio zu gehen und dann beginnt ein 8 stündiger Horrortrip durch alle Ebenen des cubanischen Gesundheitssystems, weil Denguefieber bei mir vermutet wird. Leider steht gerade kein Krankentransporter zur Verfügung, weil ich an diesem Abend nicht der einzige war, der von einer Ebene des Gesundheitssystems in die nächste transportiert werden musste.. Als ich dann doch endlich in einer nahegelegenen Poliklinik ankomme, untersucht mich ein Arzt, mit einen Venezuela-Brigaden-Aufnäher auf der Brust, der von seinen humanitären Diensten im Ausland zeugt. Er bestätigt den Verdacht, verabreicht mir eine Kochsalzinfusion und ich lege mich, wie alle anderen, unter ein Moskitonetz, damit mich keine Mücken stechen und die Krankheit verbreiten können. Hier sind wir also in der zweiten Etappe des Gesundheitssystems, in den Polikliniken. Die 444 Polikliniken, die es landesweit gibt, sind Orte an denen verschiedene Fachärzte zusammen arbeiten. Es gibt also nicht einen Zahnarzt an Ort A, eine Physiotherapeutin an Ort B und eine Gynäkologin an Ort C, sondern eine Klinik in der verschiedene SpezialistInnen ihre Räume haben. Da in Polikliniken aber niemand stationär aufgenommen werden kann und Verdachtsfälle auf Dengue in Quarantäne müssen, werde ich nach einigen Stunden in das Krankenhaus „Salvador Allende“ gefahren.
3.Ebene: allgemeine Krankenhäuser, Spezialkrankenhäusern und Forschungszentren
In dem großen allgemeinen Krankenhaus ist ein Extragebäude für Dengue-Verdachtsfälle eingerichtet worden, hier kuriere ich in den nächsten 7 Tagen mein Fieber aus. 84 solcher Krankenhäuser gibt es für die 11 Millionen Einwohner Cubas. Sie bilden zusammen mit den Spezialkrankenhäusern und Forschungszentren die 3 Ebene des Gesundheitssystems. Hiervon gibt es insgesamt 270 im Land. Wenn man einmal im Krankenhaus stationär aufgenommen wird , ist alles kostenlos, vom Essen bis hin zur Behandlung und Übernachtung.
7 Tage Krankenhaus mit viel Herz aber ohne Klospülung
Auch im Krankenhaus verfolgen einen die Auswirkungen der wirtschaftlichen Probleme Cubas. Die Wasserversorgung in den Badezimmern funktioniert nicht richtig. Es gibt nur einen intakten Wasserhahn, unter dem ein großes Fass steht. Egal ob man sich waschen möchte, die Zähne putzen oder nach dem Toilettengang spülen will, man muss vorher mit einem Eimer Wasser aus dem Fass besorgen. Auch die Moskitonetze über unseren Betten scheinen schon einiges durchgemacht zu haben und sind deswegen nicht mehr so ganz vertrauenserweckend. Die Betten sind klein, die Matratzen recht dünn und es gibt keine Kissen. Auch für das Essen und Trinken, welches man bekommt, muss man sich eigenes Geschirr mitbringen und kulinarischer Genuss ist es auch nicht gerade. Da ich all das nicht wusste, hatte ich am ersten Tag natürlich weder Eimer, noch Geschirr. Doch meine Zimmergenossen sind sehr hilfsbreit, wie die meisten Cubaner, die ich bisher hier kennen lernen durfte und deswegen ist das alles kein großes Problem und wir teilen uns alles was ihre Familien ihnen mitgebracht haben. Die Familien und Freunde spielen eine ziemlich wichtige Rolle im Krankheitsfall, meine Zimmergenossen haben fast ununterbrochen Besuch und bekommen immer eine Box mit leckerem Mittagessen mitgebracht oder eine Flasche Saft, ein paar Kekse oder eine Guave. Der Umgang ist wie immer sehr herzlich, nicht nur unter den Patienten, sondern auch zwischen dem Fachpersonal. Es wird viel gescherzt, gelacht und gesungen, leider ab und an auch bis spät abends. Ich frage mich allerdings wie es Menschen ergeht, die keine Familie mehr haben und auch keine Freunde!? Wer bringt ihnen den Eimer, wer das Kopfkissen? Der cubanische Staat kümmert sich zwar um die notwendigsten Dinge, aber auch ein Kissen kann beim Heilungsprozess sicherlich praktisch sein und mit den Händen sollte auch niemand essen müssen. Vielleicht kann ich mir aber auch nur vorstellen, weil ich im Kapitalismus – in dem alle zu kleinen Individualisten erzogen werden – aufgewachsen bin, dass Menschen keine Freunde haben und dass sie mit den Händen essen müssen, wenn sie kein eigenes Besteck haben. Denn selbst ich habe ja sofort mit Eddys Gabel essen dürfen und bin mit Fabiels Eimer duschen gegangen. Nach 4 Tagen geht es mir zwar schon wieder ziemlich gut, aber um sicher zu gehen, dass ich über mein Blut niemanden mehr anstecken kann, muss ich noch 3 weitere Tage im Krankenhaus bleiben und auch nach meiner Entlassung die nächsten Tage jeden Morgen zu unserer medizinischen Erstaufnahmestelle gehen, um mich durchchecken zu lassen.
Fazit
Es gibt bestimmt Gesundheitssysteme mit hochwertigerer materieller Ausstattung und auch die hygienischen Bedingungen mögen anderenorts besser sein, aber der kostenlose Zugang zu allem für alle ist einmalig. Auch die Kompetenz der Ärzte und Ärztinnen und das clevere 3-Ebenen-System ist bemerkenswert. Vergleicht man das cubanische Gesundheitswesen mit denen anderen Entwicklungsländern führt das cubanische immer die Liste an und selbst mit den meisten Industriestaaten kann sich Cuba mittlerweile messen oder hat sie bereits eingeholt. Cuba zeigt uns so, was selbst mit wenigen finanziellen Mitteln möglich ist und lässt uns davon träumen, wie unser Gesundheitssystem in Deutschland aussehen könnte, wenn wir in einem System leben würden, in denen der Mensch im Mittelpunkt steht. Ich habe für meinen Geschmack genug eigene Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem machen können, aber wenigstens weiß ich jetzt wovon ich spreche wenn ich immer wieder herausstelle, wie außergewöhnlich die cubanischen Verhältnisse doch sind.
Hier kommst du zu mehr Artikeln von Tobi
*Artikel 43: Der Staat garantiert die folgenden durch die Revolution errungenen Rechte aller Bürger, ohne jegliche Unterscheidung hinsichtlich der Rasse, Hautfarbe, des Geschlechts, der Religion, der nationalen Herkunft oder sonstiger Verletzungen der menschlichen Würde:
- (…)
- die gleiche Behandlung in allen Einrichtungen des Gesundheitswesens
Artikel 50.: Jeder hat ein Recht auf Schutz und Erhalt der Gesundheit. Der Staat garantiert die Wahrnehmung dieser Rechte:
- durch kostenlose medizinische Behandlung und Betreuung, auch im Krankenhaus, über das Netz der medizinischen Einrichtungen, Polikliniken, Krankenhäuser, prophylaktischen Zentren sowie Spezialbehandlungen;
- durch kostenlose zahnmedizinische Behandlung;
- durch die Entwicklung und Verbreitung von Hygieneprogrammen und Gesundheitserziehung; medizinische Untersuchungen in gewissen Zeitabständen, Impfprogramme und sonstige vorbeugende Maßnahmen zum Erhalt der Gesundheit. Durch die Massenorganisationen und die sozialen Einrichtungen nimmt die gesamte Bevölkerung an den Plänen und Aktivitäten teil.
Pingback: 9 Tage Fidel – Eine Revolution im Wandel, eine Revolution ohne Fidel | Eine Andere Welt ist möglich
Pingback: „Warum gibt es in Havanna nicht mehr Busse?“ – Ein kleiner Einblick in das Mobilitätssystem Havannas | Eine Andere Welt ist möglich
Pingback: Integration oder Ausgrenzung? | Eine Andere Welt ist möglich
Pingback: Das Einparteiensystem und die Opposition auf Cuba | Eine Andere Welt ist möglich
Pingback: Fakten statt Emotionen | Eine Andere Welt ist möglich
Hat dies auf cubaleman – cubano y alemán rebloggt und kommentierte:
La razón de mi cubanización personal. Me fui pa‘ Cuba en 2009 para conocer su sistema de salúd pública. Regresé a Alemania mirando al mundo con ojos diferentes. Hoy como médico en Alemania encuentro en mi trabajo cotidiano cada rato situaciónes graves, que no existierán, si aprendíeramos un poquitico de la Isla Rebelde…
Por ejemplo gastamos millones de Euros en operaciónes de pacientes de cancer prefinales, para que sufren unos meses mas, en vez de realizar programas de detección temprana y prevención.
De acuerdo con su opinion.
Aquí todo depende del dinero, así que se dejan sufrir a las gente por unos Euros mas.