Weißes Gold

In einem der vorherigen Artikel unseres Blogs hat Pablo sich mit der Rolle des Zuckers in der kubanischen Gesellschaft auseinandergesetzt („Kubanische Kristalle“). Neben generellen Erläuterungen zu gesundheitlichen Risiken, die ein erhöhter Konsum mit sich bringen kann, wurden Zahlen zum Zuckerverbrauch auf Kuba und dem prozentualen Anteil an DiabetikerInnen in den Kontext gesetzt. Außerdem fand in den Artikel die wirtschaftliche Bedeutung der Zuckerproduktion für den kubanischen Staat Eingang.

Welche Rolle das weiße Gold im Alltag der KubanerInnen spielt, wurde ebenfalls im ersten Teil unseres Blogeintrages deutlich. Zur Erfrischung genehmigt man sich auf der Insel gerne mal einen sogenannten Refresco (Softdrink) oder andere, teilweise noch süßere Getränke. Mit einer kubanischen Pizza kann man sich auch nicht gerade vor dem Zucker retten, denn sowohl der Teig als auch die Tomatensauce werden in der Regel gesüßt. Dies sind nur wenige Beispiele dafür, dass das Süße hier aus dem Leben nur schwer wegzudenken ist. Unsere Gruppe erinnert sich noch gut daran, wie der mehr oder weniger heftige Kulturschock, dem wir in verschiedenster Form während unseres Aufenthaltes auf der Isla de la Juventud ausgesetzt waren, sich durchaus auch in Gestalt eines Zuckerschocks zeigen konnte. 

Schnell stellt man sich die Frage, weshalb in Kuba so viel Zucker konsumiert wird, beziehungsweise weshalb die Bevölkerung offensichtlich das Bedürfnis hat, zu jeder Tageszeit Zucker in jeglicher Form und Menge zu sich zu nehmen. Um sich der Antwort zu nähern, hilft wie so häufig ein Blick auf die Geschichte des Karibikstaates. 

Wie bereits im vorangegangenen Artikel erläutert, stützt sich die kubanische Wirtschaft seit langer Zeit auf den Anbau von Zuckerrohr und die Produktion von Industriezucker. Vor mehr als 500 Jahren, mit dem Beginn der spanischen Kolonialisierung, wird die Pflanze in Kuba eingeführt und das erste Mal kultiviert. Seit jeher gehört sie zu den gängigsten landwirtschaftlichen Erzeugnissen, von denen ein Großteil zunächst ihren Weg nach Spanien, später in die Vereinigten Staaten und heute nach China und in alle Welt findet. Mit der Verstaatlichung der Produktionsmittel im Zuge der Revolution konnte Kuba sich ab 1959 von dem starken US-amerikanischen Einfluss lösen und zum ersten Mal in der Geschichte standen die Türen zu einer unabhängigen Wirtschaft des Karibikstaates offen. Die Zuckerproduktion als größter wirtschaftlicher Faktor steht in diesem Zusammenhang stellvertretend für die neu erlangte Freiheit Kubas. So wurde der Zugang zu dem weißen Gold, das aufgrund der aufwendigen Herstellungsweise lange Zeit als Luxusprodukt galt, spätestens unter Castros Regime für jeden zugänglich. Dieser Bruch in der Geschichte sorgte für einen Anstieg der Beliebtheit des Zuckers innerhalb der eigenen Bevölkerung und machte es erst recht zu einem Teil der nationalen Kultur, die die KubanerInnen stolz nach außen tragen.

Mit der 1961 eingeführten Libretaeinem Lebensmittelschein, der die Grundversorgung und somit auch den Zuckerbedarf für alle KubanerInnen sichern soll – ist es für eine erwachsene Person aktuell möglich, eine monatliche Ration von 1,3 kg braunem und 0,45 kg weißem Zucker kostenlos vom Staat zu beziehen. Auch wenn diese Art der Lebensmittelbeschaffung nicht von allen in Anspruch genommen wird, so gehört der Zucker doch klassischerweise in jeden kubanischen Haushalt. So waren 2014 und in den Jahren zuvor beispielsweise 600.000 bis 700.000 Tonnen des süßen Erzeugnisses dem kubanischen Volk vorbehalten. Vergegenwärtigt man sich in diesem Zusammenhang die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation, eine täglich zugeführte Menge von 25 Gramm Haushaltszucker nicht zu überschreiten (siehe Pablos Artikel), scheitert die Rechnung bereits an der Ration, die die Libreta für jeden Konsumenten vorsieht. Demnach nimmt jeder Kubaner rechnerisch am Tag bereits das doppelte der offiziell empfohlenen Menge durch kostenfrei erhältlichen Haushaltszucker zu sich. Hinzu kommen dann noch die in der Regel recht süßen Getränke sowie Gebäcke, gezuckerte Erdnussriegel, Karamellnachspeisen, Puddings, Eis und, und, und. Neben der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Zucker muss man ebenfalls festhalten, dass das wissenschaftlich nachgewiesene Suchtpotenzial (siehe Pablos Artikel) körperliche und psychische Abhängigkeit auslösen kann. Dies könnte eine weitere Erklärung für den hohen Zuckerkonsum der Insel sein.

Verschiedene Krankheiten wie Adipositas, Herz-Kreislauferkrankungen und Diabetes können die Folgen einer besonders zuckerhaltigen Ernährung sein. Zu deren Eindämmung versucht der kubanische Staat, auf verschiedenen Ebenen aktiv zu sein. So werden zum Beispiel in Arztpraxen häufiger Informationsplakate oder im Fernsehen gelegentlich Spots platziert, die über die Risiken von Diabetes und die richtige Ernährungsweise aufklären. Die Präsenz der Diabetesthematik in der kubanischen Gesellschaft führte sogar dazu, dass im Mai des vergangenen Jahres in Havanna der erste Internationale Diabetes Kongress stattfand, auf dem über die Prävention und Behandlung der Krankheit diskutiert wurde. In diesem Kontext nennt Ileydis Iglesias, Direktorin des nationalen Instituts für Endokrinologie (ein Fachbereich der Inneren Medizin) verschiedene staatliche Hilfsprogramme, die schwangeren Frauen oder auch älteren Menschen den Umgang mit der Krankheit erleichtern sollen. Wie eine Ärztin der Krankenstation auf dem CUJAE-Campus mir erklärt, existieren für DiabetikerInnen strikte, vom Gesundheitsministerium erstellte Diät-Pläne. Den von der Krankheit betroffenen Personen werden die bevorzugten Lebensmittel wie beispielsweise Hähnchen zudem zu Vorteilspreisen angeboten. Ein massives Problem bei der Behandlung stellt allerdings die schlechte Versorgungslage in Bezug auf notwendige Geräte zur Bekämpfung der Krankheit dar. So fehlen zum einen CGM-Systeme („Continuous Glucose Monitoring“), die einen 24-Stunden-Überblick über den Blutzuckerverlauf geben und zum anderen Insulinpumpen für Patienten, die empfindlich auf Mehrfachinjektionen des überlebenswichtigen Insulins reagieren. Hier sind die Auswirkungen der US-amerikanischen Wirtschaftsblockade deutlich zu spüren, da die genannten Produkte aufgrund der Patentrechte amerikanischer Unternehmen nicht nach Kuba importiert werden dürfen. 

Doch auch der Karibikstaat besitzt die Eigentumsrechte an äußerst wirksamen Mitteln zur Bekämpfung von Krankheiten. Ein Medikament, das zur Behandlung von Geschwüren des sogenannten Diabetikerfußes in fortgeschrittenen Stadien verwendet wird und den Namen Heberprot-B trägt, wurde durch das Zentrum für Gentechnik und Biotechnologie (CIGB) entwickelt und kann laut Prensa Latina die Gefahr einer Amputation in einem Patientenfall um mehr als 70% verringern. 

Schlussendlich kann man sagen, dass eine aktive Politik zur Bekämpfung der Krankheit Diabetes existiert, indem die zuständigen Ministerien Aufklärungs- sowie Forschungsarbeit investieren. Dennoch lassen sich Zweifel hegen, ob die Problematik des Zuckers in der kubanischen Gesellschaft ausreichend thematisiert wird. So gibt die Ärztin, mit der ich mich unterhalte, lachend zu, auch nicht allzu genau auf die adäquate Dosierung der verführerischen Süße zu achten. Selbst einige DiabetikerInnen seien nicht besonders diszipliniert in der Einhaltung ihrer vorgegeben Diäten. In den, obgleich aus frischen Früchten zubereiteten, jugo de guayaba (Saft, der aus der Tropenfrucht Guave gewonnen wird) gehöre einfach eine gewisse Portion Zucker. 

Die Statistik von 2016/17 wies der deutschen Bevölkerung einen jährlichen Pro-Kopf-Konsum von knapp 34 Kilogramm Zucker aus, der somit „nur“ halb so hoch wie die Zuckerzufuhr der KubanerInnen ist. Dessen ungeachtet liegt die Diabetesrate in Deutschland erstaunlicherweise mit 9,2% (davon über 90% Diabetes Typ 2) deutlich über der kubanischen, die, wie im ersten Artikel erwähnt, 2018 bei 6,2% lag. Da sich diese Zahl jedoch nicht nur durch den Zuckerkonsum erklärt, sondern auch von anderen Faktoren der individuellen Ernährung beeinflusst wird, legen wir im abschließenden Vergleich das Augenmerk auf die Unterschiede in der Art und Weise, wie in beiden Gesellschaften Zucker konsumiert wird. Der zweite Text hob in diesem Zusammenhang hervor, dass die KubanerInnen den industriell hergestellten Zucker meist pur zu ihren Lebensmitteln hinzugeben, um diese nach ihrem Geschmack (noch weiter) zu süßen. Andere Süßwaren, in denen der Zucker bereits in der Produktion verarbeitet wurde, gehören ebenfalls zum kubanischen Warensortiment. Doch nach unseren Erfahrungen scheint vor allem darin der markante Unterschied zwischen den beiden Ländern zu liegen. Nämlich, dass in Deutschland viele Lebensmittel versteckte Kalorienbomben (siehe Verarbeitung von Zucker im Körper in Text 1) sind und die zugegebene Menge von Zucker in den hochverarbeiteten Produkten weniger leicht zu identifizieren ist. Die Deutschen mögen vielleicht weniger der Gewohnheit nachgehen, auch den letzten Fruchtsaft noch zusätzlich zu zuckern. Gemessen an den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation ist der Zuckerkonsum in Deutschland trotzdem viel zu hoch. Zu guter Letzt kann festgehalten werden, dass sowohl in Deutschland als auch in Kuba noch viel Potenzial besteht, die eigene Bevölkerung hinsichtlich der häufig unterschätzten Problematiken des Produktes Zucker umfassender aufzuklären. Erste Ansätze zur Reduzierung des Konsums lassen sich zum Beispiel in Großbritannien finden. Dort veranlasste die 2018 eingeführte Steuer auf stark gezuckerte Getränke viele Großunternehmen zu einer Änderung ihrer Rezepturen.

Dies ist ein Artikel von Simon. Klicke hier, um weitere Artikel von ihm zu lesen.

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