Comandante en jefe, ordene!

Oberster Befehlshaber, befiehl!

Auch nach drei Monaten in Kuba läuft mir immer noch ein kalter Schauer den Rücken herunter, wenn ich diesen Spruch lese. Er ist eine der selteneren politischen Botschaften, die hier an vielen Häuserwänden, Aufstellern, Plakaten und ähnlichen stehen. Mal ist er als kleines DIN-A4 Plakat zu sehen, mal in meterhohen Lettern auf einer Hauswand zu finden. Für mich Anlass genug, mich mit dem Konzept von Führungi in Kuba auseinanderzusetzen.

Wahrscheinlich fällt vielen, die Kuba besuchen, direkt der beeindruckende Respekt auf, mit dem hier Fidel Castro gedacht wird. Und auch im Gespräch mit mir hat niemand ein schlechtes Wort über ihn verloren, ganz unabhängig von der eigenen politischen Einstellung. Schon allein die Emotionalität, mit der sich die kubanische Bevölkerung nach seinem Tod von Fidel verabschiedet hat, ist bemerkenswert und in Deutschland unvorstellbar – die Vorstellung, Millionen Menschen angesichts Muttis Tod weinen zu sehen wirkt geradezu absurd, zu keiner Politiker*in pflegen die Menschen hier eine solche Beziehung.

Das Jugendkulturzentrum mejunje

Das Thema Führerschaft ist aber auch jenseits der Person Fidel Castro tief in der kubanischen Gesellschaft verankert. Das zeigt sich auch bei unserem Besuch in Santa Claras angesagtem Jugendkulturzentrum mejunje (der Name bedeutet in etwa Mischmasch und steht für das vielfältige Programm). Der Mitarbeiter, der uns eine Einführung in das Programm und den Aufbau des Zentrums gibt, erklärt nachdrücklich mehrfach, was für ein charismatischer Führer der Leiter des Zentrums doch sei und dass ihm alle Kolleg*innen in seinen Entscheidungen bedingungslos folgen würden. Die Frage nach den Mitsprache- und Mitgestaltungsrechten der Jugendlichen am Programm, das sich an sie richtet, stößt dementsprechend auf wenig Verständnis: Die Leitung des Zentrums wisse doch viel besser, was gut für die Jugend sei, und der Erfolg gebe ihr Recht. Für mich eine erstaunliche Einstellung, die so gar nicht zur Geschichte des Zentrums zu passen scheint. Ihm zufolge sei das mejunje nämlich letztendlich das Produkt von Jugendlichen, die vor vierzig Jahren aus Mangel an kulturellen Angeboten ein leerstehendes Gebäude für Konzerte, Ausstellungen, Theateraufführungen und zum abendlichen Rumhängen genutzt haben. Und genau diesen Jugendlichen scheint jetzt plötzlich diese Verantwortung nicht mehr zugetraut zu werden. Die Einstellung steht für mich auch im Kontrast zu den allgemeinen Beteiligungsmöglichkeiten kubanischer Jugendlicher, die über die verschiedenen Massenorganisationen als Schüler*innen und Student*innen sowie durch die Union der kommunistischen Jugend UJC gut in die politischen Prozesse Kubas eingebunden sind und viel besser daran teilnehmen können, als dies beispielsweise in Deutschland der Fall ist.
Unser Koordinator Julian pflichtet der Position des Mitarbeiters in der weiteren Diskussion auf dem Heimweg allerdings bei – das Angebot werde doch gut genutzt, es gebe also keinen Grund dafür, Mitsprache zu ermöglichen. Wir Deutschen hätten aufgrund unserer Geschichte ein Problem damit zu erkennen, wie wichtig politische Führungspersönlichkeiten seien, obwohl sie in der Wirtschaft als selbstverständlich und essentiell anerkannt seien. Dabei käme es nur darauf an sicherzustellen, dass es sich um gute Führer handelt.

Unterwerfung unter den Staat?

Es mag nahe liegen, vor allem mit deutschem Hintergrund und Perspektive, dieses Phänomen reflexartig als blinden Gehorsam zu problematisieren und abzulehnen. Für ein Verständnis des Konzepts von Führung in Kuba ist es jedoch unabdinglich, sich differenzierter mit dem Verhältnis zwischen Anführer*in beziehungsweise Führung und Geführten, der „Masse“, auseinanderzusetzen. Wie intensiv diese Auseinandersetzung auch innerhalb der herausragenden Köpfe der kubanischen Revolution stattgefunden hat, wird aus den folgenden Worten Che Guevaras aus den Sechzigerjahren deutlich:

„Oberflächlich betrachtet könnte es scheinen, dass jene Recht haben, die von einer Unterwerfung des Individuums unter den Staat reden; die Masse führt mit Enthusiasmus und Disziplin ohnegleichen die Aufgaben aus, die die Regierung festlegt, ganz gleich, ob sie von wirtschaftlichem, kulturellem, verteidigendem, sportlichem oder von anderem Charakter sind. Im Allgemeinen geht die Initiative von Fidel oder dem Oberkommando der Revolution aus und wird dem Volk erläutert, das es als seine eigene annimmt. […]
Allerdings täuscht sich der Staat manchmal. Wenn eine dieser Fehlentscheidungen vorliegt, stellt man eine Abnahme des kollektiven Enthusiasmus fest durch die quantitative Verringerung aller Teilelemente, aus denen sie besteht, und die Arbeit erlahmt, bis sie auf unbedeutende Größen geschrumpft ist; das ist der Moment der Korrektur. […]
Es ist offensichtlich, dass dieser Mechanismus nicht ausreicht, um eine Abfolge sinnvoller Maßnahmen sicherzustellen, und dass eine besser strukturierte Verbindung mit den Massen fehlt. Das müssen wir über den Lauf der nächsten Jahre verbessern, aber im Fall der von den vorderen Reihen der Regierung ausgehenden Initiativen benutzen wir im Moment die fast intuitive Methode, die allgemeinen Reaktionen auf die vorgestellten Probleme zu sondieren. […]
Für diejenigen, die nicht die Erfahrung dieser Revolution machen, ist diese existierende enge dialektische Einheit zwischen dem Individuum und der Masse schwierig zu verstehen, in der beide sich miteinander verbinden und gleichzeitig die Masse, als Gesamtheit der Individuen, sich mit den Führern verbindet.“ii

Statt einer unidirektionalen, oft von Unterdrückung und Gewalt geprägten Beziehung, wie sie in Diktaturen üblich ist, handelt es sich hier offensichtlich um einen Dialog. Entsprechend der Vorstellung des dialektischen Materialismus, dass allen Dingen eine Essenz innewohnt, die es zu erkennen gilt, ist es Aufgabe der Anführer*in, diese Essenz aus der Meinungsäußerung der vielen herauszufiltern, die die Masse formen. Dass es dabei dennoch um etwas anderes als um Populismus, ein dem Volk nach dem Maul reden geht, verdeutlicht Fidel Castro selbst in einer Rede kurz nach dem Sieg der Revolution, noch bevor er Präsident wird:

„Ein wahrhaftiger Führer ist derjenige, der dem Volk nicht das erzählt, was dem Volk gefällt oder wovon er denkt, dass es dem Volk gefallen wird, oder wofür er in diesem Moment am meisten Beifall erhält, sondern das, was für das Volk am klügsten ist, das, was auf lange Sicht am nützlichsten ist für diejenigen, die repräsentiert werden.“iii

Revolutionäre Führer*innen…

Das Interview des Akademikers Jeffrey Elliot und des Kongressabgeordneten Mervin Dymally aus den USA mit Fidel Castro im Jahre 1985 befasst sich ausführlich mit seinen Vorstellungen von Führerschaft. Auf die Frage, welche Eigenschaften ein Mensch brauche, um eine große Führer*in zu sein, antwortet Fidel:

„Unter manchen Umständen, die Fähigkeit für den Krieg; unter anderen Umständen, die Fähigkeit zu überlegen, nachzudenken; unter anderen, die Fähigkeit sich auszudrücken, Reden zu halten, die anderen zu überzeugen; unter anderen, die Aktion, die Fähigkeit zu handeln; unter anderen die Fähigkeit zu organisieren. Schlussendlich kann man nicht von prototypischen Anforderungen eines Führers sprechen.“iv

Obwohl die notwendigen Eigenschaften seiner Meinung nach also stark von den Umständen abhängen, konkretisiert er im weiteren Verlauf des Interviews einige Anforderungen eines revolutionären Führers:

„Ich denke, es braucht eine große Portion Überzeugung, Leidenschaft für das, was gemacht wird; ich glaube es braucht außerdem großes Vertrauen in das Volk; mir scheint es braucht Hartnäckigkeit, es braucht außerdem Gelassenheit, sogar, einen Sinn für Verantwortung, Identifikation mit dem, was man macht und mit dem Volk. Ich glaube, es benötigt ebenso ein bisschen Vorbereitung, klare Ideen. Das sind einige Elemente.
Ich würde gern noch einige Dinge zum Konzept des revolutionären Führers hinzufügen. Ich glaube, dass man einen großen Sinn menschlicher Solidarität haben muss, einen großen Respekt für das Volk, dass man das Volk nicht als Instrument sehen kann, sondern als Akteur, wahrhaftig als Protagonisten, als Ziel und als Held dieses Kampfes.“v

Dies grenzt er ab von anderen Führungspersönlichkeiten:

„Wir reden über seriöse Führer, nicht wahr? Wir reden nicht über Demagogen, wir reden nicht über zur Wahl stehende Politiker, weil um Stimmen zu erhalten, sogar um viele Stimmen zu erhalten, ist es manchmal nötig, ein guter Demagoge zu sein […]
Ich denke nicht daran, ich denke an Menschen, die die Fähigkeit haben, Ideen zu erzeugen, Vertrauen zu wecken, einen Prozess zu lenken, das Volk in schwierigen Momenten zu führen, darauf beziehe ich mich. […]
Es gibt auch Menschen, die die Fähigkeit haben, regressive geschichtliche Prozesse anzuführen. Sagen wir mal, Hitler war ein Führer, technisch gesehen ein Führer, er hat bestimmte Eigenschaften eines Führers vereint, aber natürlich kein revolutionärer Führer; er war ein faschistischer Führer, ein reaktionärer Führer, der mit den Massen kommunizierte, in den Passionen der Leute stocherte, im Ressentiment, im Hass, der an die niederen Instinkte der Menschen appellierte und es schaffte, Menschenmassen mitzureißen. Moralisch gesehen war er absolut kein Führer.
Ich dachte mehr an revolutionäre Führer, die Eigenschaften, die ein Führer braucht, der positive Spuren in der Geschichte hinterlässt, ich habe auf die Ausnahme hingewiesen, als ich den deutschen Fall erwähnte, des Demagogen, wie es Individuen geben kann, die unter bestimmten Umständen und mit gewissen Methoden die Leute für eine schlechte Sache mitreißen; ich hätte gern, dass vom Begriff, den man vom Führer hat, diese Art von Demagogen ausgeschlossen wird.“vi

… statt Diktator*innen

Zum Abschluss des Interviews wird Fidel Castro gefragt, was er denen entgegnet, die ihn für einen grausamen Militärdiktator halten, so wie der damalige US-Präsident Ronald Reagan ihn betitelt hat.

„[…] Ein Diktator ist jemand, der eigenmächtige, willkürliche Entscheidungen trifft, der die Institutionen, die Gesetze übergeht, der keine andere Kontrolle hat als seinen Willen oder seine Launen. […]
Reagan kann schreckliche Entscheidungen treffen, ohne jemanden hinzuzuziehen. […] Reagan kann eine Invasion wie die Granadas entscheiden, einen schmutzigen Krieg wie den in Nicaragua. Reagan kann eigenmächtig Entscheidungen treffen, ohne jemanden hinzuzuziehen; er kann sogar Gebrauch der Schlüssel und des Koffers machen, die ihn immer begleiten und einen thermonuklearen Krieg entfesseln, der das Ende der Menschheit sein könnte. Wenn nicht, wofür hätte er dann diesen Koffer, wofür hätte er dann diese Schlüssel und wofür hätte er dann einen Gehilfen mit dem Koffer? Das setzt voraus, dass Reagan die Entscheidung treffen kann, einen thermonuklearen Krieg zu entfesseln ohne den Senat hinzuzuziehen, ohne das Repräsentantenhaus hinzuzuziehen, ohne das Kabinett hinzuzuziehen, etwas das das Ende der Menschheit bedeuten könnte; nicht einmal die römischen Imperatoren hatten solche Fähigkeiten. […]
Also nun wollen wir meine Situation analysieren. Ich treffe keine eigenmächtigen Entscheidungen, ich habe meine Funktionen als Leiter innerhalb eines Kollektivs; in unserem Land gibt es keine Institution wie die des Präsidenten der USA; die fundamentalen Entscheidungen, alle wichtigen Entscheidungen, werden kollektiv analysiert, diskutiert und beschlossen; ich ernenne keine Minister, Botschafter, ich ernenne nicht den geringsten öffentlichen Funktionär in diesem Land, denn wir haben ein Auswahlsystem um diese Funktionäre vorzuschlagen und zu benennen; und nirgendwo, weder in der zentralen Staatsführung, noch in den Gemeinden, noch in den Provinzen, kann der Präsident des Poder Popularvii eigenmächtig Entscheidungen treffen. Ich habe tatsächlich Autorität, ich habe Einfluss, aber – wie ich Ihnen schon bei anderen Gelegenheiten gesagt habe – vor allem ein Vorrecht: Das Vorrecht zu reden, im Politbüro, im Zentralkomitee der Partei, in der Nationalversammlung, im Staatsrat, im Ministerrat und vor dem Volk. Das ist die fundamentale Kompetenz, die ich habe; ich strebe keine weitere an, noch wünsche ich eine weitere, noch benötige ich eine weitere. Dies sind die Bedingungen, unter denen ein politischer Anführer in unserem Land arbeiten muss. Mir scheint, dass keines dieser Konzepte mit der Idee eines Diktators zusammenpasst, der kommt, um zu diktieren, der Befehle jeder Art diktiert. Weder handele ich so, noch sind dies meine Befugnisse. Ich gebe keine Befehle, ich argumentiere. Ich regiere nicht per Dekret und könnte es auch nicht. […]
Ich denke – ehrlich gesagt –, dass der Präsident der Vereinigten Staaten deutlich mehr Befugnisse und Möglichkeiten hat, Befehle zu diktieren, einige davon so entscheidend und dramatisch, ohne absolut niemanden zu konsultieren, wie zum Beispiele einen Atomkrieg zu entfesseln, der die Existenz der Menschheit beenden kann. Nichts sonst kann mir so abscheulich antidemokratisch erscheinen. Also, wer ist mehr Diktator, der Präsident der Vereinigten Staaten oder ich?“viii

Yo soy Fidel

Die Reaktionen vieler Kubaner*innen nach Fidel Castros Tod geben nicht nur die emotionale Verbundenheit preis, sie beleuchten auch einen anderen Aspekt dieses Verhältnis. Plötzlich gab es nämlich überall Schilder, Bilder, Graffiti und ähnliches mit der Aufschrift „Yo soy Fidel“ zu sehen, auf deutsch: „Ich bin Fidel.“ Eine mögliche Interpretationsweise hiervon ist, dass diese Menschen sich einerseits in Fidel Castros Aussagen, Entscheidungen und Führung wiederfinden konnten und andererseits dieses Erbe jetzt weiterführen wollen – sich also mitnichten als hirnlose Masse, sondern als wichtige Akteur*innen begreifen.

Dieser Artikel ist von Paul.


i Die Begriffe „Führer“ und „Volk“ sind in der deutschen politischen Diskussionen besonders historisch aufgeladen, weshalb ich sie eigentlich nicht benutze. Ihre spanischen Entsprechungen „líder“ und „pueblo“ haben die völkische und faschistische Konnotation jedoch nicht. Da mir keine bessere Übersetzung eingefallen ist, habe ich mit Bauchschmerzen zu „Führer“ und „Volk“ gegriffen, möchte aber darum bitten, dass diese im Kontext dieses Textes von völkischen Blut-und-Boden-Konzepten und faschistoiden Führungsideen abgegrenzt werden.

ii Ernesto Guevara, 1965: El socialismo y el hombre en Cuba. Übersetzung des Autors.

iii Fidel Castro, 9. Februar 1959: Rede vor dem Plenum der Nationalen Föderation der Zuckerarbeiter (FNTA), La Habana. Aus: El pensamiento de Fidel Castro. Selección temática. Übersetzung des Autors.

iv Fidel Castro, 1985: Nada podra detener la marcha de la historia. Übersetzung des Autors.

v Ebenda.

vi Ebenda.

vii „Poder Popular“, wörtlich Volksmacht, bezeichnet das parlamentarische System Kubas.

viii Ebenda.

Bildquellen: http://www.cubacontempo.com, http://www.radiorebelde.cu sowie eigene Aufnahme.

Ein Gedanke zu „Comandante en jefe, ordene!“

  1. Die Erklärung unter i) bringt mich zum Kommentieren. Es ist schon heftig, dass wir den Gebrauch von Worten erklären oder sogar entschuldigen. Wir sollten uns nicht selber zensieren. Der Text ist klar und toll geschrieben und alle Worte passen. Danke dafür und Grüße.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert