Das soziale Phänomen der Transkulturation

Unser erster Monat auf der Isla de la Juventud brachte mich auf die Idee, diesen Artikel zu verfassen. Dort belegten wir an der Universität Jesús Montané Oropesa einen Kurs, der sich mit der Entstehung der kubanischen Kultur beschäftigte. Die dort vermittelten Inhalten sowie vor allem die Methode, mit der wir das Thema bearbeiteten, haben mich beeindruckt.

Die Leitlinie unseres Seminars war es, herauszufinden, inwiefern die Einflüsse der verschiedenen Bevölkerungsgruppen und ihrer jeweiligen Kulturen zum Entstehen der kubanischen Kultur beigetragen haben.

Um diesen Prozess zu verstehen, ist es wichtig, den, von dem kubanischen Soziologen Fernando Ortiz, benutzten Begriff der Transkulturation zu kennen. In der soziologischen Forschung bestanden zwei Begriffe, die Veränderungen der Kultur in Gesellschaften und bei Individuen erklären sollten und zwar Enkulturation und Akkulturation. Enkulturation meinte dabei, den Verlust beziehungsweise das Auslöschen einer zuvor bestehenden Kultur. Akkulturation meinte das Übernehmen einer bestehenden Kultur und wird oftmals auch bezeichnet als kulturelle Anpassung. Transkulturation hingegen, als Weiterentwicklung dieser Begriffe, beschreibt das Zusammenwirken verschiedener Kulturen bei der Entstehung einer neuen.

Im Folgenden möchte ich anhand von Beispielen auf die historischen Migrationsprozesse in der kubanischen Gesellschaft eingehen und an diesen exemplarisch aufzeigen, welche kulturellen Veränderungen dieselben mit sich brachten.

Bei der Ankunft Christopher Columbus 1492 lebten ungefähr 100.000 Indigene – Taíno – auf der Insel. Nach der so betitelten „Entdeckung der neuen Welt“ ließen sich spanische Siedler auf der karibischen Insel nieder, die ihr Glück in der neuen Umgebung suchten. Schon nach wenigen Jahren waren die meisten Menschen der ursprünglichen Bevölkerung ausgerottet. Eine Vielzahl starb an eingeschleppten Krankheiten, wurde ermordet oder flüchtete in den Tod, um nicht Opfer der spanischen Versklavung zu werden. Schon gegen Mitte des 16. Jahrhunderts lebten quasi keine Indigenen mehr auf Kuba. Durch diese Ausrottung verschwand auch ein großer Teil ihrer Kultur. Jedoch finden sich bis heute Spuren ihrer kulturellen Existenz. So werden zum Beispiel die Häuser der Landbevölkerung weiterhin in Anlehnung an die vorkolonialen Zeiten gebaut. Zu diesen Bruchstücke der ursprünglich vorhandenen Kultur kamen neue aus Katalonien, Galizien, Andalusien und anderen Regionen Spaniens stammende Elemente hinzu. Fernando Ortiz spricht hier von einer „gescheiterten Transkulturation“, weil in dem Prozess die indigene Kultur weitestgehend vernichtet wurde.

Durch den Mangel an Arbeitskräften in Folge der Vernichtung der ursprünglichen Bevölkerung brachten Sklavenhändler gemäß der wirtschaftlichen Interessen des spanischen Königsreichs in den folgenden Jahrhunderten massenhaft Sklaven aus Afrika nach Kuba. Die aus Westafrika stammenden Menschen brachten ihre eigene Kultur aus ihren Heimatländern mit. Ihre Ansiedlung vollzog sich jedoch unter völlig anderen Vorzeichen als die der spanischen Siedler. Während die Spanier freiwillig kamen und weiterhin Kontakt zu ihrem Herkunftsland hielten, verloren die Sklaven den Kontakt zu ihrer Heimat ab dem Zeitpunkt, wo sie die Sklavenboote bestiegen. Um einen Zusammenhalt zwischen den Menschen zu verhindern, nutzten die Kolonialherren verschiedene Methoden, so wurden beispielsweise Sklaven zusammengeführt, die keine gemeinsame Sprache sprachen. Trotz dieser Maßnahmen übten die vor allem auf den Plantagen zusammenlebenden Menschen weiterhin Teile ihrer Kultur aus. Sie hielten religiöse Versammlungen ab, spielten ihre Musik und sprachen nach Möglichkeit ihre Sprachen. So entstanden unter anderem die heutzutage in Kuba weitverbreiteten synkretistischen Religionen, die Elemente aus dem Katholizismus und afrikanischen Religionen vereinen.

Nach dem Verbot der Sklaverei gegen Ende des 19. Jahrhunderts suchten die Sklavenhalter nach neuen billigen Arbeitskräften. Aus diesem Grunde lockten sie chinesische Arbeiter auf die Insel, die vor allem in der Plantagenwirtschaft tätig waren. Auch diese Einwanderer brachten ihre eigene Kultur mit. In Havanna entstand in diesen Jahren die größte Chinatown Lateinamerikas und der Reis etablierte sich als eines der Grundbestandteile der kubanischen Küche.

Zu diesen großen Einwanderungsgruppen gesellten sich außerdem weitere Einwanderer vor allem aus europäischen, aber unter anderem auch aus anderen amerikanischen Staaten. So findet man beispielsweise französische Einflüsse in der Architektur der Hafenstadt Cienfuegos.

Nach der formalen Unabhängigkeit der Insel im Jahr 1902 kam es zu einem zunehmenden Einfluss der Vereinigten Staaten auf Kuba. In Folge dessen kamen vermehrt US-Amerikaner auf die Insel. Auch dies hinterließ seine Spuren in der kubanischen Gesellschaft. Zum Beispiel wurde der aus den Staaten stammende Baseball zum Nationalsport der Kubaner.

Anhand der vonstattengehenden sozioökonomischen Veränderungen in der kubanischen Gesellschaft, kam es immer wieder zur Einwanderung neuer Menschen, die jeweils andere kulturelle Prägungen besaßen. Die kubanische Kultur ist das Produkt dieser Entwicklung. In ihr finden sich verschiedene Beispiele für den Jahrhunderte andauernden Transkulturationsprozess wieder: die afrikanischen Götter, die jeweils einen Ausdruck in einem der katholischen Heiligen gefunden haben, der Rumba, in dem sich afrikanische mit europäischen Musikelementen mischen oder das Essen, das aus China stammenden Reis mit der auf der Insel heimischen Yuca-Wurzel verbindet. Wie in der Genetik, wo das Kind etwas von beiden seiner Elternteile erbt, aber sich am Ende von Beiden unterscheidet, ist es, laut Fernando Ortiz, auch bei der Entstehung von Kulturen. Die kubanische Kultur kann weder als europäisch noch als afrikanisch, chinesisch oder sonst wie bezeichnet werden. Sie ist ein eigenes Produkt der kulturellen Geschichte dieses Landes und seiner Menschen.

Beim Bearbeiten des Themas kam mir immer wieder auch die in Deutschland bestehende Diskussion über eine Leitkultur und entstehende Parallelgesellschaften in den Sinn. Der von Ferdinand Ortiz beschriebene Prozess der Transkulturation mag in diesem Diskurs ein Anhaltspunkt sein, um zu verstehen, dass sich eine Kultur nicht auf den Einfluss einer dominanten Personengruppe beschränken lässt und welch bereichernden Wert unterschiedliche kulturelle Einflüsse in einer Gesellschaft haben können.

Dieser Artikel ist von Malte.

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