Für einen Martí durch Havanna

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Meine Schuhe sind immer noch eklig klebrig von dem Teer, der einfach über die Straße gekippt wurde. Die Straße absperren, wenn man sie erneuert? Das erscheint mir inzwischen seltsam fremd. Auf Kuba werden Baustellen nicht abgesperrt. Man kann einfach so über die zu erneuernde Straße fahren oder laufen und sich mit seinen Fußabdrücken im Pflaster verewigen. Ich befinde mich an der Bushaltestelle der CUJAE, der technischen Uni von Havanna, nicht ahnend welche wunderschönen Erfahrungen mich heute erwarten werden. Selbst nach vier Wochen Kuba bleibt jeder Tag einzigartig. Obwohl mein Terminkalender vollgestopft ist mit Artikelbesprechungen, kulturellen Veranstaltungen, Gruppentreffen und Spanischunterricht und meine deutschen Terminorganisationsmethoden für die neue kubanische Realität nicht mehr angemessen scheinen, so lebe ich doch irgendwie viel mehr von Tag zu Tag, von Moment zu Moment. Abgetrennt vom mobilen Internet ist eine Minutengenaue Taktung des Tagesablaufs ohnehin nicht möglich und Hitze und Luftfeuchtigkeit sorgen dafür, dass man mehr auf die Energiereserven des Körpers achten muss.

So ist auch die Frage ob die Busse auf Kuba nach irgendeinen Zeitplan fahren zwar sehr kontrovers, aber in der Realität hier nicht wichtig, denn man stellt sich einfach an die Bushalte und dann kommt der Bus halt, wenn er kommt. Ich krame in meinem Geldbeutel nach einem Martí, also einer Pesomünze. Genannt so, weil da Nationalheld Jose Martí drauf ist. Busfahren kostet auf Kuba nur 40 Pesocent, oder 20 für Studenten, also kann ein Martí 5 Studierende mitnehmen, ein echter Nationalheld eben. Wechselgeld wird grundsätzlich nicht ausgeben, meistens bezahlt man also ein bisschen mehr, auch die Kubaner. Wie viel ist ein Peso? Nun 25 Pesos sind 1 Dollar. Also recht wenig. Dabei befriedigt die Guagua, wie Kubaner den Bus liebevoll nennen, nicht nur Bedürfnisse des Personentransports, sondern auch nach körperlicher Nähe, die Busse sind chronisch überfüllt und dank der Offenheit der Kubaner auch nach sozialen Kontakten. Da viele Menschen den Bus als Haupttransportmittel nutzen, transportieren sie damit auch ihre Besitztümer, von lebendigen Hühnern bis Industriebedarf. Ich habe einen guten Stehplatz ergattert und erfreue mich des Fahrtwindes in meinem Gesicht. Mein Blick schweift über die Menschen, die sich mit mir die Guagua teilen. Studierende der CUJAE, ältere Damen, die sich mit ihren Lebensjahren das grundsätzliche Privileg auf einen Sitzplatz gesichert haben, eine junge Mitarbeiterin des Innenministeriums in Uniform, ein süßes Teenie Pärchen, eng umschlungen, während die Mutter des Jungen direkt daneben sitzt und der Typ mit dem krassen Handyspiel auf dem Smartphone. Wirklich alle Bevölkerungsteile sind vertreten.

Mein Ziel ist „El Acompañante“ um 6 Uhr im Kino Riviera zu sehen, tatsächlich komme ich aber etwas zu früh an und nutze die Zeit, nach Blick auf die Kürze der Schlange, vor der Coppelia, einer der größten Eisdielen der Welt, um in eben dieser ein Eis zu essen. Jemand der in Deutschland aufgewachsen ist, würde erwarten, dass der Eispalast eher zu den hochpreisigen Establishments in Havanna zählt. Schließlich ist sie sehr schick, man wird bedient und bekommt super leckeres Eis. Doch das Gegenteil ist der Fall. Eine Kugel ein Peso. Ich habe kubanische Familien beobachtet wie sie sich 5 sogenannter Eissalate, das sind jeweils 5 Kugeln Eis in so einem Salat, pro Person gönnten. Viele kommen mit Tupperdosen um sich etwas für zu Hause zu sicheren.  Dagegen wirkt der Eisstand neben der Coppelia an dem man für Devisen Eis kaufen kann, wenn man nicht bereit ist, in den teilweisen sehr langen Schlangen, an denen man wartet bis man an der Coppelia einen Tisch bekommt, zu stehen, doch eher traurig, bietet zwar auch gutes Eis, aber eben nicht das Coppelia Lebensgefühl.

Auf zum Kino, hier muss ich richtig blechen. Zwei Peso. Ich habe mal versucht Kubanern zu erklären wie teuer Kino in Deutschland ist, Kopfschütteln war die Folge. Kann ein 2 Peso Kino denn auch mithalten mit deutschen Kinos? Ich staune in angesichts der Größe und erinnere mich dabei, dass das Riviera nicht mal eines der größten Kinos in Havanna ist. Diskussionen in Deutschland über die sogenannte Diktatur und die Zensur auf Kuba verblassen beim Konsum dieses staatlich finanzierten Meisterwerks, dass beim Aspekt der Propaganda doch sehr enttäuscht. Statt Lobpreisungen auf die Kommunistische Partei Kubas gibt ein aufrüttelndes und kritisches Drama über den Umgang mit AIDS in den 80ger Jahren auf Kuba. Sogar ein ranghoher Parteifunktionär wird in einem negativen Bild gezeichnet und der Held der Geschichte versucht in die USA zu fliehen. Furchtbar.

Kurz nachdem ich das Kino verlassen haben, wirft mich eine alte kubanische Frau etwas aus meinen Träumereien. „Un Peso?“ Ach ja, ich befinde mich in Vedado, im Touristenviertel Havannas. Dort gibt es leider auch Bettler. Touristen sind nun mal eine super Geldquelle, aber obwohl ich zu meiner ständigen Frustration nicht verhindern kann im öffentlichen Leben als Tourist wahrgenommen zu werden, zumindest bis ich die Gelegenheit habe vom Projekt zu erzählen, eine Aktion, die zielsicher leuchtende Augen bei meinen Mitmenschen verursacht, so strahlt doch Havanna auch für mich eine Wärme und Sicherheit aus, die nichts mit der sozialen Kälte deutsche Großstädte gemein hat.

Ich erreiche die Bushaltestelle und frage nach dem „Último“, dem Letzten. Menschen auf Kuba beherrschen nämlich die Kunst Schlange zu stehen und die ist ganz simpel: Man fragt einfach wer der Letzte in der Schlange ist und merkt sich das. Funktioniert das? Ja total, also ja, nicht bei den Studierenden an der CUJAE, da gelten andere Regeln, aber sonst überall. Gibt ja genug Gelegenheiten auf Kuba das zu üben.

Ich befinde mich mal wieder im Bus und träume davon, was wir in Deutschland erreichen könnten, wenn Kunst, Kultur und Bildung für alle nur annähernd den hohen Stellenwert hätte, den sie auf Kuba haben. So kommt es, dass ich erst sehr spät bemerke, dass die Stimmung im Bus plötzlich angespannter wird und der Bus von seiner gewöhnlichen Strecke abgewichen ist.  Der Chófer, wie der Busfahrer hier genannt wird, fährt auffallend aggressiv, hupt ständig. Vor einem Krankenhaus kommt der Bus abrupt zum Stehen. Ein kleiner Jungen mit gesenkten Kopf, begleitet von zwei älteren Personen, die ihre Hand an seiner Schulter haben, steigt heraus, wird ins Krankenhaus begleitet. Ich spüre wie eine Erleichterung durch den Bus geht. Durch Gesprächsfetzen, die ich aufschnappe erklärt sich nach und nach die Situation für mich. Der kleine Junge war sehr krank gewesen und musste dringend ins Krankenhaus. Der Chófer zögerte keine Minute. Für ihn, aber scheinbar auch für meine kubanischen Mitmenschen im Bus, war klar, dass die Priorität sein musste, ihn so schnell wie möglich ins Krankenhaus zu fahren. Das Gefühl umgeben zu sein, von Menschen, für die Solidarität gelebte Realität ist, versüßt mir den Heimweg, aber ab und zu kommt innerhalb meiner Gedankenwelt die Frage auf, warum ich diese Tat als so besonders empfinde. War es nicht einfach die einzig logische und richtige Handlung? Wenn ein kleiner Junge dringend in ein Krankenhaus muss, dann fährt man ihn halt dahin.  Würde ein Busfahrer in Deutschland genauso handeln? Der Versuch der Beantwortung dieser Frage verursacht ein Zusammenziehen meines Magens.

Dieser Artikel ist von Martin. Hier findest du weitere Artikel von ihm.

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