9 Tage Fidel – Eine Revolution im Wandel, eine Revolution ohne Fidel

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Den Spanischkurs beenden wir heute schon früher, denn heute ist kein gewöhnlicher Tag. Heute ist der vierte Tag Staatstrauer nach Fidels Tod. Wie schon einen Tag zuvor sind die Menschen auf den Platz der Revolution in Havanna eingeladen, um sich von dem Mann zu verabschieden, der über 50 Jahre lang die kubanische Revolution mit seinen Ideen angeleitet hat. Schon gestern habe ich auf dem Platz die Vorbereitungen für den heutigen Tag gesehen, zu dem auch Präsident*innen und Vertreter*innen aus verschiedenen Ländern eingeladen sind, um an dem kubanischen Gedenkakt teilzunehmen und ihre Verbundenheit mit Fidel, seiner Politik und seinen Ideen zu unterstreichen.

Ich sitze jetzt im Taxi zur Universität. Den Bus kann ich nicht nehmen, denn an diesem Tag fahren nur wenige ihre gewohnten Routen. An der CUJAE kann ich dann verstehen warum; eine ganze Kolonne von hintereinanderstehenden Bussen wartet auf dem Campus, um die vielen, um mich herumstehenden jungen Menschen und mich zum Platz der Revolution zu bringen. Der Großteil von ihnen ist in den T-Shirts der Universität gekleidet. Einige haben rote, blaue und schwarze Bemalungen auf den Gesichtern und Armen. „Fidel vive en mi“ und „Yo soy Fidel“ kann ich bei manchen entziffern, andere beziehen sich eher auf die kämpferischen Parolen der kubanischen Revolution „Hasta la victoria siempre“ und „la lucha sigue“. Gleichermaßen fällt mir die Kombination der Farben Rot und Schwarz auf. Es sind die Farben der Bewegung des 26. Juli. Einer, von der kubanischen Arbeiter*innenklasse gestützte Bewegung, die unter Fidel den Beginn der Zerschlagung des Batistas-Regimes und somit den Beginn der Revolution in Kuba hervorbrachte.

Nicht direkt am Platz, sondern einige hundert Meter vorher, werden wir rausgelassen. Doch durch den Strom der fließenden Menschenmassen sehe ich, schon nach gefühlt einer Sekunde später, den Turm auf dem Platz der Revolution vor mir. Neben dem Schwall von Menschen, der mich hierhergebracht hat, ergießen sich aus weiteren Seitenstraßen kleinere und größere Menschentrauben und füllen den Platz mehr und mehr. So Viele an einem Ort. In Gedanken an die Enge in der gestrigen Schlange zum Monument kommt bei mir Besorgnis auf. Doch durch die geschickte Organisation einer aus Menschen geformten Schleuse gelangen wir, die Studierenden der CUJAE zu dem für uns vorgesehenen Abschnitt, ohne dass ich mich in meiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt fühle.

Die Zeiger der Uhr stehen jetzt auf halb fünf. Zweieinhalb Stunden vor dem offiziellen Beginn der Redebeiträge. Neben mir die aufgeregte und abwartende Stimmung der Menschen. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um einen Blick über den Platz zu erhaschen. Wahnsinn! So viele Menschen! Das müssen mehrere Tausend sein. Die Schätzungen einiger Leute, die ich frage, geht hoch bis zu einer Million. Zwei leuchtende Augen neben mir fragen mich, ob ich denn auch Kommunistin sei und verwickeln mich in ein spannendes Gespräch. Seine Großeltern väterlicherseits seien aus England und Spanien, hätten sich vor der Revolution auf Kuba niedergelassen und wären geblieben. Später reden wir über Musik, Psychologie und Bücher. Er ist nicht die erste Person, die mir von den Fidel vorschwärmt. Neben seinen Büchern sind es auch die Werke von José Martí, die ich bald lesen möchte. Sicherlich verstehe ich dann mehr von dem, was er damit meint, dass die Idee des Kampfes in Kuba umgesetzten werden konnte. Dass es sich dieser Kampf gegen soziale Ungleichheit aufgrund von verschiedenen Voraussetzungen und für die Verwirklichung des Rechts Aller auf Bildung, Gesundheit und demokratische Beteiligung beziehe.

Über die Errungenschaften dieses Kampfes in den Bereichen der Bildung, Gesundheit und Demokratie kann hier weitergelesen werden: Über Bildung: „Bildungssysteme im Vergleich: Cuba, Finnland, Deutschland“ von Tobi und „Alphabetisierung, erster Teil“ von Juli. Über Gesundheit: „Das Gesundheitssystem auf Cuba ist gratis, aber nicht umsonst“ von Tobi. Über Demokratie: „Demokratie in einer Diktatur!?“ von Hanno und „Das Einparteiensystem und die Opposition auf Cuba“ von Tobi.

Mein Gesprächspartner fügt zu seinen stolzen Befürwortungen aber auch hinzu, dass nicht alles gut funktioniere, ebenso wie es in allen Länder der Welt Dinge gibt, die nicht gut funktionieren. Ein Großteil der Probleme auf Kuba sei aber durch die US-amerikanische Wirtschaftsblockade verursacht. Es wird lauter, um uns und ich werde daran erinnert, dass wir inmitten von Millionen wartenden Menschen auf dem Platz der Revolution stehen.

In rhythmischem Einklang schallen drei Worte immer wieder über den Platz. Drei Worte, die nicht durch ihre Schlichtheit, nicht durch ihre Kürze, sondern durch die Bestimmtheit der hinter ihnen stehenden Millionen Menschen gewaltig an Bedeutung gewinnen. „¡Yo soy Fidel!“, „¡Yo soy Fidel“, ¡Yo soy Fidel“. Ich probiere zu verstehen und nachzuvollziehen, wie es sich wohl anfühlt, eine über 50 Jahre lang politisch aktive Persönlichkeit so zu verabschieden. Aber bei den Rufen kommt mir nicht das Bild einer Verabschiedung in den Kopf. Es ist eine Bestätigung der Person Fidels, ein Wiederbeleben und Verinnerlichen, der mit seiner Person verbundenen Werte. „¡Se oye, se siente, Fidel está presente!“ (Man hört es, man fühlt es. Fidel ist anwesend!). „¡Fidel descuida, el pueblo no te olvida!“ (Fidel mach dir keine Sorgen, das Volk vergisst dich nicht!). Der Chor der Studierenden formt weiter die Worte des Konzepts der Revolution im Sinne von Fidel. Es ist ein beeindruckendes Ereignis, so viele Menschen, die ein und dieselbe Sache bekräftigen. Aber von welcher Sache ist hier die Rede? Ist es Fidel oder der Kampf der Revolution? Oder lassen sich diese beiden Aspekte als untrennbar mit einander verbunden sehen?

Ein Lied konzentriert die Aufmerksamkeit der Millionen Augenpaare des Platzes und vor den Fernsehapparaten auf die Tribüne unterhalb des José Martí Monuments. Es ist das Lied, das schon gestern den Auftakt der Gedenkfeier des ICAPs darstellte (Juri & Kijell). Dazu laufen Videosequenzen von Fidels politischen Auftritten über zwei Leinwände. Ein Moment der Besinnung ausdrückt und den ich nutze, um die Gesichter der mich umgebenden Menschen besser zu verstehen. So verschieden sie auch scheinen, strahlen sie die gleiche Ergriffenheit von der Situation aus. Bei Zweien kann ich Tränen über die Wangen laufen sehen, andere stehen stillschweigend da und haben einen auf die folgende Situation gespannten Gesichtsausdruck.

Dann stimmt man die Nationalhymne an und ein Gedicht zu Ehren Fidels ist der hinführende Beitrag zu den 18. Redebeiträgen der internationalen Gäste. Ich bin sehr beeindruckt von der Anwesenheit der Präsident*innen und Vertreter*innen aus all den verschiedenen Teilen der Welt. Angesichts der vielen unter Fidel geleisteten solidarischen Hilfseinsätze Kubas sprechen sie Danksagungen aus, loben seine revolutionären und sozialistischen Prinzipien, die internationale Solidarität und betonen Fidels stärkende Rolle für die lateinamerikanische Unabhängigkeit.
Den ersten Beitrag bietet Rafael Correa, der Präsident Ecuadors, weiter sprechen Niculás Maduro in Vertretung für Venezuela und Evo Morales für Bolivien.

Auch kommen die Vertretungen Namibias, Algerien, Angolas und Südafrikas zu Wort.  Die Länder China, Russland und Vietnam, sowie auch Griechenland würdigen die Taten Fidels und den damit verbundenen Geist der Revolution in Kuba. Ich frage mich, wie die Reden in den jeweiligen Ländern Einfluss auf die Politik nehmen wird.  Die politische Bedeutung dieses Tages für die kubanische Bevölkerung glaube ich durch die Rede des Präsidenten Daniel Ortega von Nicaragua am besten begreifen zu können. Er eröffnet seine Rede mit den rhetorisch geschickt gewählten Worten: „¿Donde está Fidel?“. Zur Antwort bekunden zu Beginn noch Wenige, nach der zweiten und dritten Wiederholung jedoch der Großteil des Platzes, dass er hier sei, dass die Menschen dieser Insel Fidel seien. Fidel als Synonym zum revolutionären Geist der Gesellschaft.

Ich sitze jetzt im Bus zur Universität. Es ist nachts halb zwölf und eine Kolonne von Bussen fährt uns zur CUJAE zurück. Für gewöhnlich fahren hier um diese Uhrzeit nicht so viele Busse. Aber heute ist kein gewöhnlicher Tag. Heute ist der vierte Tag Staatstrauer nach Fidels Tod. Aber wieso Trauer? „¡Fidel está aqui!“ Fidel, oder besser gesagt die Revolution, lebt weiter.

Dieser Artikel ist von Anuk. Hier geht es zu weiteren Artikeln von ihr.

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