Die Sommerschule Hugo Chávez – kritische Zivilgesellschaft?

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Die „Escuela de Verano Hugo Chávez“ wurde vom Verein „Nuestra America“ organisiert, der von einigen jungen kritischen Linken in Havanna gegründet wurde. Dieser hat sich zum Ziel gesetzt die sozialen Transformationsprozesse, die sich in einigen lateinamerikanischen Ländern abspielen, zu reflektieren, eigene emanzipatorische Projekte durchzuführen und als Forum des Austausches zu dienen. Die Sommerschule, welche ich auch besuchte, fand in dieser Form erstmals in der ersten Augustwoche während der Semesterferien in Havanna statt und hatte ca. 60 Teilnehmer. Sie trägt den Namen des ehemaligen Präsidenten Venezuelas, der große Sozialprogramme durchführte und sich maßgeblich auf soziale Bewegungen stützte, mit denen er auch gemeinsam eine neue Verfassung ausarbeitete. Hugo Chávez gilt als einer der Begründer des Sozialismus des 21. Jahrhunderts und prägte die Linke Südamerikas nachhaltig.

Die Gründungsmitglieder von Nuestra America arbeiten unter anderem in sozialwissenschaftlichen Instituten, Kulturzentren, NGOs oder studieren noch. Sie eint der Wunsch nach einem sozial gerechten und emanzipativen lateinamerikanischen Kontinent, weswegen sie auch mit sozialen Bewegungen aus dem Ausland vernetzt sind. Die Sommerschule veranstalten sie einerseits der Weiterbildung wegen, andererseits zur Vernetzung und zum Austausch von Akteuren aus verschiedenen sozialen Bewegungen. Unterstützung bekam die Sommerschule unter anderem von der seit langem auf Kuba tätigen NGO Centro de Martin Luther King.

Sommerschule mit Symbolik

Am Anfang war es ein Reiskorn, welches neben Beuteln gefüllt mit Kichererbsen, Bohnen und Körnern verloren in der Mitte des Raumes lag. Alle Teilnehmer der Escuela de Verano griffen, als sie den Tagungsraum im Westen Havannas zum ersten Mal betraten, in die Beutel und gemeinsam legten wir eine, zwei, viele Straßen. Sie führten voneinander weg, zueinander, kreuzten sich, schlugen Haken und Bögen, gingen vor und zurück. Am Ende wurden sie zu einem wunderbar kunstvollen Konstrukt, welches unseren gemeinsamen Weg zu einer sozialistischen Welt symbolisieren sollte, bei dem es auf jeden individuellen Beitrag ankommt. Ein Weg, der nicht gradlinig verlaufen kann, sich mit Widersprüchen, Sackgassen und negativen Erfahrungen konfrontieren muss. Um aus Fehlern zu lernen, um Errungenschaften zu verteidigen um den Weg ohne richtig oder falsch kollektiv zu gehen.

Verschiedenste Akteure im Ziel vereint

Zu Beginn stellten wir uns und unsere politische Arbeit vor, um anschließend die Arbeitsräume mit mitgebrachten Fahnen, Plakaten und Insignien von unseren politischen Organisationen zu dekorieren. Neben mir waren auch noch einige andere Teilnehmer aus dem Ausland vertreten: zum Beispiel von der Landlosen Bewegung aus Brasilien (movimiento sin tierra), der kommunistischen Jugend aus Chile, Sozialisten aus Kolumbien und aus dem feministischen Spektrum der USA. Ich nahm für das Projekt Tamara Bunke und für die SDAJ teil. Gerade die Perspektive von uns, die nicht aus diesem Land kommen, interessierte die Kubaner ungemein. Aus diesem Grund haben sie unseren Eindrücken aus kapitalistischen Ländern eine ganze Abendveranstaltung eingeräumt, in der wir unsere Erfahrungen und politische Praxis in Vorträgen mit anschließender Diskussion darlegen konnten.

Die kubanischen Teilnehmer sind entweder in sozialen Bewegungen aktiv oder sie arbeiten in eigenen soziopolitischen bzw. kulturellen Projekten. Angefangen mit dem ökumenischen Netzwerk Kubas sowie der Organisation ARAAC (articulacion regional afrodescentes para las americas y el caribe), das sich gegen Rassismus und rassistische Diskriminierung in der kubanischen Gesellschaft einsetzt, über lokale ökologische Projekte (Red Ecologico Pinar del Rio), bis hin zu Künstlern, die Jugendliche aus sozialen Brennpunkten anleiten sich mit Plastiken und Kunst auseinanderzusetzen (Malatesta), sowie Studenten aus der UJC (union jovenes comunistas, der Vereinigung junger Kommunisten). Einige der Studenten gründen bspw. gerade ein nationales Netzwerk für junge Marxisten und versuchen Che Guevaras Ideal vom „neuen Menschen“ in Ehren zu halten.

Doch auch weniger organisierte Menschen, jung wie alt, die gerade erst anfangen Politik zu betreiben, waren mit von der Partie. Ein Beispiel ist die überzeugte Kommunistin Milagro, die mit einigen Kommilitonen einen Lesekreis, Veranstaltungen und Lesungen zu verschiedenen politischen Themen initiiert hat, sich selbst aber in den „eingeschlafenen und hierarchischen“ Strukturen der UJC nicht wiederfinden kann. Sie und viele der Anwesenden setzen sich auch ohne Parteibuch für eine sozialistische Gesellschaft und ihre stetige Verbesserung ein – mal mit, mal ohne Unterstützung des kubanischen Staates.

Sie sind Teil einer kritischen sozialistischen Zivilgesellschaft, die sich mit Problemen des kubanischen Sozialismus auseinandersetzt und versucht Lösungen zu finden, ohne gleichzeitig die Errungenschaften oder die Revolution an sich zur Diskussion zu stellen.

Pluralistischer Meinungsaustausch

Als Vorbereitung wurden Texte von verschiedenen Autoren aus Lateinamerika und der ganzen Welt zu Themen der Unterdrückung wie auch der Emanzipation gelesen.
Ein Thema war etwa die Theorie der vielschichtigen Dominanz des Kapitalismus in unserer Gesellschaft und der Durchdringung unseres persönlichen Lebens von Gilberto Valdez Gutierrez. Die Literatur wies auch Möglichkeiten einer menschlichen und systematischen Emanzipation von kapitalistischen Widersprüchen, hin zu einer befreiten sozialistischen Gesellschaft auf.

Die Texte waren nicht einer dezidierten ideologischen Ausrichtung zuzuordnen und stellten deswegen eine gute Mischung aus verschiedenen Ansätzen und Analysen dar, die auch die pluralistische konstruktive Debatte auf der gesamten Sommerschule, „welcher Weg zum Sozialismus nun der richtige wäre“ widerspiegelte.
Natürlich durfte auch eine Einführung in die politische Ökonomie der marxistischen Klassiker nicht fehlen. Das Schöne an dem Austausch war, dass fast alle die Theorie auf ihre praktische politische Arbeit beziehen konnten. So berichteten beispielsweise Teilnehmer von der Landlosen Bewegung (MST) von ihren Praktiken und Widerstandskämpfen gegen das Kapital. Gängige Praxis in der 1984 gegründeten und ca. 1.5 Millionen großen brasilianischen Basisorganisation ist bspw. die Besetzung von brachliegendem bzw. nicht effektiv genutztem Land oder die Zerstörung von Gewächshäusern von Transnationalen Unternehmen. Das besetzte Land wird kollektiv genutzt und von Genossenschaften verwaltet. Die MST setzt sich vor allem für eine Agrarreform, aber ebenso für Menschen- und Frauenrechte ein. Sie hat großflächige Strukturen geschaffen mit eigenen Schulen, Gesundheitsversorgung und Produktion.

Neben dem großen Plenum, in dem gemeinsame Diskussionen geführt und Arbeitsergebnisse vorgestellt wurden, fand die Arbeit auf der Sommerschule in sogenannten Nucleos statt. Kleingruppen von bis zu sechs Menschen, denen auch verschiedene Verantwortlichkeiten und Aufgaben zugeteilt wurden. Der Name meines Nucleos war “ los internacionalistas“, unser Leitspruch „no es la critica la gran transformadora, sino la Revolucion“ was sinngemäß bedeutet: Es ist nicht die Kritik, die die großen Veränderungen bringt, sondern die Revolution.
Gemeinsam werteten wir die gelesene Literatur aus, sprachen über die Schlüsse, die aus den Fehlern des Realsozialismus zu ziehen seien, über politische Partizipation in Kuba, Korruption als Hemmnis des Sozialismus, die beste Form der Demokratisierung der Produktion, über zeitgemäße internationale Solidarität und vieles mehr.

Expertenrunden

Neben dem Austausch und den Gruppenarbeiten gab es auch einige Vorträge mit anschließenden Debatten zur aktuellen politischen Situation Kubas und zu den sozialen Transformationen, die gerade in Venezuela, Bolivien und Ecuador stattfinden.
So konstatierte der Professor Ariel Dacar, dass es gerade jetzt wichtig ist, sich für den Sozialismus einzusetzen und er nicht als Selbstverständlichkeit angesehen werden darf, die unumkehrbar ist. Er setzt große Hoffnungen in die Lineamentos, weist aber zugleich warnend darauf hin, dass der Sozialismus als komplizierter Prozess eben auch Widersprüche produziert, gegen die man ankämpfen muss. Als Exempel nennt er den steigenden Rassismus und die wachsende Schere zwischen Arm und Reich in der kubanischen Gesellschaft. Desweiteren sagte er eine nötige Demokratisierung voraus, die nicht nur den politischen Sektor und das neue Wahlgesetz 2017/18 betreffen darf, sondern auch eine demokratischere Kultur sowie die Wirtschaft mit mehr selbstverwalteten Betrieben und Genossenschaften einschließen muss. Er forderte, dass die kubanische sozialistische Zivilgesellschaft nicht nur ihre Fragen, sondern auch ihre Antworten zur Sprache bringen muss, um sich noch stärker im politischen System zu etablieren.

Bei den Debatten ist dieser Punkt ein Dauerthema, welches jedoch im Blick auf die Zukunft durchaus hoffnungsfroh zu stimmen vermag. Es geht nämlich nicht darum die Regierung „ins gesellschaftliche Abseits“ zu stellen, es geht darum sie durch mehr Partizipation zu ergänzen wo es möglich ist und dem Individuum zu mehr Einflussmöglichkeiten zu verhelfen.

Gemeinschaft fühlen

Im Vergleich zu anderen politischen Sommerschulen, die ich besucht habe, stand nicht der reine Wissenserwerb im Vordergrund. Mindestens genauso wichtig war das Miteinander, so etwa der Austausch von emotionalen Gesten oder kleinen Geschenken um ein besonderes Gemeinschaftsgefühl zu kreieren. Mein persönlicher Eindruck war, dass weniger ökonomische Analysen Hauptgrund des politischen Engagements und des Interesses waren, sondern eine tiefe Sehnsucht nach dem guten Leben, dem „buen vivir“, welche in der hiesigen Kultur, insbesondere in den Sozialen und Indigenen Bewegungen, eine völlig andere Bedeutung hat als in Europa. Aus diesem Grund waren elementarer Bestandteil des Programms Mystiken aller Art. So pflanzten wir z.B. unsere Wünsche für die kommenden Tage zu Beginn in ein aufgeschüttetes Beet aus Erde. Ebenso wurden immer wieder Lieder gesungen, Gedichte vorgetragen, Spiele gespielt, bei denen der politische Gehalt nicht auf Anhieb erkennbar war.

Am letzten Abend veranstaltete mein Nucleo eine Nacht der Kultur in der jeder einen Beitrag stiftete, sei es ein Tanz, eine Liebeserklärung oder ein Zitat auf deutsch aus Eduardo Galeanos „Die offenen Adern Lateinamerikas“. Der brennende Abschluss war ein aus 3000 Streichhölzern in Sand geschriebenes „Chávez vive la lucha sigue“ (Chávez lebt, der Kampf geht weiter!), ein Kampfruf, der aus jedem Mund wie eine Warnung in den Nachthimmel aufstieg!

Ich durfte auf der Sommerschule Einblicke in Perspektiven bekommen, die mir fremd waren und die auch in keinem „Klassiker“ zu finden sind.
Meine ganz persönliche Lehre aus dieser intensiv erlebten Zeit ist, den Sozialismus nicht nur als Wissenschaft mit dem Kopf zu denken, sondern ihn auch „mit dem Herzen zu sehen“.

Dieser Artikel ist von Hanno, hier geht es zu weiteren Artikeln von ihm.

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