Zahnarztbesuch in Havanna

Wie ich mich schmerzlich an die Widersprüche unseres privaten Gesundheitswesens erinnert fühlte

Mitte April 2015. Seit ca. zwei Wochen tut mein rechter oberer Backenzahn weh. Ich hatte mir mit Zahnseide meine Füllung zwischen dem vorletzten und dem letzten Backenzahn heraus gezogen, wobei wohl auch ein Stück Zahnschmelz mit herausgerissen wurde. Das entstandene Loch ist so groß, das immer etwas Essen darin hängen bleibt, wie z.B. eine halbe Erdnuss. Also im wahrsten Sinne des Wortes eine „nervige Sache“, schmerzhaft, ich muss also in Cuba zum Zahnarzt.

Vorgeschichte in Deutschland

Ich erinnere mich nur zu gut: Bin ich doch, bevor ich nach Cuba aufbrach, in Deutschland vorsorglich in die Praxis einer Zahnärztin gegangen um mich untersuchen zu lassen und evtl. etwas Wichtiges noch vor dem Aufenthalt in der Karibik machen zu lassen. An der Rezeption das übliche Prozedere wegen der zwei Klassen-Einteilung der Behandlungsbedürftigen, je nach Geldbeutel: „Gesetzlich oder privat?“. – „Gesetzlich“, antworte ich. „Kärtchen bitte, – danke.“ Vor meinem geistigen Auge sehe ich noch genau die agile Zahnärztin mit ihren gewandten Bewegungen. Sie findet ein Loch im besagten Backenzahn, der mich auch heute noch quält und sagt: „Die gute Komposit-Füllung kostet sie eine Eigenbeteiligung von 150 Euro, ich empfehle ihnen diese sehr, die ist einfach besser und hält länger!“ Ich entscheide mich dagegen, weil ich dafür kein Geld übrig habe. Ein kurzer stechender Schmerz der Betäubungsspritze, mit offenem Mund und reflexartigen Tränen in den aufgerissenen Augen schaue ich der Ärztin im weißen Licht der Neonlampe beim Arbeiten zu. Sie macht nun zwar die Zementfüllung, die für die gesetzlich Versicherten wie mich nichts zusätzlich kostet, versucht mich aber weiterhin zu überzeugen und säuselt mir während sie arbeitet zu: „Sie haben so schöne Zähne, ich würde ihnen so gerne die Komposit-Füllung machen.“ Ich weiß, dass das auch in ihrem Interesse wäre, weil sie dann mehr Geld an mir verdienen könnte. Sie bohrt etwas, reinigt und platziert die Füllung. Zum Abschied betont sie in insgesamt drei Mal: „Wenn es Probleme gibt und die Füllung nicht halten sollte, dann kommen sie einfach wieder zu mir und wir machen dann die Gute!“ Ich verlasse leicht benommen und mit einem beklommenen Gefühl die Praxis.
Irritiert durch die Worte der Ärztin frage ich mich wo der Qualitätsanspruch bleibt, wenn selbst die Ärztin nicht von einer nachhaltigen Behandlung auszugehen scheint.
Aber man ist ja froh wenn es vorbei ist, „Hauptsache raus!“, denke ich.

Fakultät für Zahnmedizin, Universität Havanna

Runde beeindruckende Säulen am Eingang, das Gebäude aus dem Jahr 1900. Damals gab es Zahnbehandlungen in Cuba nur für die reiche Oberschicht. Seit dem Sieg der Revolution 1959 hat sich das geändert. Das wird im Artikel 50 (*siehe unten komplett) der cubanischen Verfassung mit den folgenden Worten festgehalten: „Jeder hat ein Recht auf Schutz und Erhalt der Gesundheit. Der Staat garantiert die Wahrnehmung dieser Rechte:

  • durch kostenlose medizinische Behandlung und Betreuung, auch im Krankenhaus, über das Netz der medizinischen Einrichtungen, Polikliniken, Krankenhäuser, prophylaktischen Zentren sowie Spezialbehandlungen;
  • durch kostenlose zahnmedizinische Behandlung…“

Ich steige die Treppe vor dem Eingang hinauf und frage an der Rezeption eine Frau wo man denn hier zur Zahnbehandlung finde. Im zweiten Stock setze ich mich zu den dort wartenden Leuten. Als ein Doktor im weißen Kittel aus dem Behandlungssaal kommt, wendet er sich an mich. Er meint es dauere einen Moment. Ich habe ja auch keinen Termin und warte anderthalb Stunden, während ich mich mit einigen anderen Patienten unterhalte bis ich aufgerufen werde. Es sind gerade Ferien, wir befinden uns in der Woche des Sieges über die Invasion in Playa Girón, der Schweinebucht 1961, also einer Feiertagswoche für Lehrende und Studierende. So betrete ich einen fast leeren Saal mit ca. 30 Zahnarztstühlen an denen sonst Studenten lernen und praktizieren. Ich setze mich etwas verunsichert. Außer meinem Arzt sehe ich nur eine weitere behandelnde Ärztin. Der Doktor fragt mich ohne weitere Umschweife: „Was ist passiert? Was fühlst Du?.“ Ich erzähle ihm die Geschichte. Dann ergreift er die Instrumente und untersucht mich. Unter der alten Füllung war seinem Urteil nach Karies verblieben, deswegen war ein Stück Zahnschmelz mit der Füllung weggebrochen. Er meint er müsse die Stelle mit Material unterstützend wieder aufbauen. Er arbeitet mit ruhigen Handgriffen. Die Betäubungsspritze ist wie in Deutschland. Er erklärt mir, dass sein Absauggerät nicht funktioniert, ich muss also öfters ausspülen. Das ist in meinem Fall kein Problem und nicht weiter schlimm, steht aber symbolisch für viele andere medizinische Geräte, die auf Grund der Wirtschaftsblockade der USA gar nicht oder nur unter enormen Kosten zu bekommen sind. Die Behandlungsweise des Arztes, der seinen linken Arm auf meiner Brust ablegt und mit mir redet, beruhigt mich. Die Behandlung dauert ca. 20 Minuten. Dann habe ich eine neue Füllung.

Ich stehe auf, habe ein Gefühl „Danke“ sagen zu wollen, tue es aber nicht, weil der Arzt ja nur seine Pflicht getan hat. Mich haben hier schon öfters Leute schräg angeschaut, wenn ich mich für etwas bedankt habe, was sie für selbstverständlich halten, -auch im Gesundheitsbereich. Heute hat mich noch nicht einmal jemand nach meinem cubanischen Ausweis, oder Studentenausweis gefragt, was normalerweise in medizinischen Einrichtungen gemacht wird. Aber es gibt ja auch keine private Rechnung die stimmen muss. Jeder, der in diesem Land mit seiner revolutionären Geschichte lebt, hat ein Recht auf eine Behandlung. Das ist eine wichtige Errungenschaft der Revolution. Eine medizinische Behandlung ist keine Ware, denn es geht hier ja um ein grundlegendes menschliches Bedürfnis. Kranke Menschen sind hier keine Kunden, die abgerechnet werden müssen wie bei uns in Deutschland, sondern sie sind Patienten. Das hebt viele Widersprüche auf, die beispielsweise in unserem Gesundheitssystem in Deutschland bestehen.

Der Zahnarzt hier in Havanna sagt mir auch, dass ich wieder zu ihm kommen soll, falls irgendetwas sein sollte. Erleichtert verlasse ich auch dieses Mal den Ort der Zahnbehandlung. Allerdings mit dem guten Gefühl, dass dieser Arzt mich so gut wie möglich behandelt hat und auf keinen Fall ein finanzielles Interesse daran hat, mich wiederzusehen.

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*ARTIKEL 50 der cubanischen Verfassung:

Jeder hat ein Recht auf Schutz und Erhalt der Gesundheit. Der Staat garantiert die Wahrnehmung dieser Rechte:

  • durch kostenlose medizinische Behandlung und Betreuung, auch im Krankenhaus, über das Netz der medizinischen Einrichtungen, Polikliniken, Krankenhäuser, prophylaktischen Zentren sowie Spezialbehandlungen;
  • durch kostenlose zahnmedizinische Behandlung;
  • durch die Entwicklung und Verbreitung von Hygieneprogrammen und Gesundheitserziehung; medizinische Untersuchungen in gewissen Zeitabständen, Impfprogramme und sonstige vorbeugende Maßnahmen zum Erhalt der Gesundheit.
  • Durch die Massenorganisationen und die sozialen Einrichtungen nimmt die gesamte Bevölkerung an den Plänen und Aktivitäten teil.

2 Gedanken zu „Zahnarztbesuch in Havanna“

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