Kein Bier mehr zum Geburtstag

Sollte die „Libreta“ als System der Verteilung von Lebensmitteln abgeschafft werden?

Überall sieht man diese kleinen Heftchen. Wenn CubanerInnen in den staatlichen Vergabestellen für Bezugsleistungen, den sogenannten Bodegas, einkaufen gehen, zücken sie ihre Libreta, um damit Nahrungsmittel und Haushaltswaren zu erhalten. In der Bäckerei gibt es sogar eine eigene Schlange für die Kunden mit Libreta, wo sie für ein Brötchen anstatt dem normalen Preis für 1 Peso (ca. 3 Euro Cent), nur 5 Peso Cent bezahlen (umgerechnet 0,15 Euro Cent). Doch was steckt dahinter, wie funktioniert dieses System der Lebensmittelverteilung und woher kommt es?

Was ist die Libreta?

Die richtige Bezeichnung für das Heftchen, welches die Häufigkeit und die Mengen der Zuteilung bestimmt, ist Libreta de Abastecimiento („Bezugsbüchlein“) und umfasst 20 Seiten. Abhängig von Geschlecht und Alter variieren die Produkte, die der Bevölkerung zustehen. Somit sind beispielsweise Kinder, ältere oder kranke Personen, sowie schwangere Frauen berechtigt, andere, spezielle Produkte wie z.B. Milch zu erhalten. Ein Mal im Jahr werden die Libretas, mit genauer Auflistung der Familienmitglieder und deren Alter, von dem OFICODA („Oficina de control de productos alimentarios – Amt für die Aufsicht über Lebensmittelprodukte) allen CubanerInnen ausgehändigt. So können sie – ausschließlich in den Bodegas ihres Wohnvierteles – nach dem Vorzeigen des Heftchens die Produkte kaufen, die zu stark subventionierten Preisen angeboten werden, die eher symbolisch sind, als das man sie wirklich in Geldwert messen könnte. Ein Pfund Reis zum Beispiel kosten so nur 5 Peso, würde man sie allerdings ohne Libreta kaufen, müsste man das Dreifache bezahlen. Als ich meinen Vermieter Jorge nach dem Inhalt der Libreta fragte, holte er sein kleines weißes Heftchen aus einer Schale hervor und zeigte es mir. Es ist ausschließlich für ihn ausgelegt – seine Frau besitzt ein eigenes – und beinhaltet folgende Produkte: Zucker (braun und weiß), Eier, Brötchen, Fleisch (Hühnchen, Schinken), Fisch, Öl, Reis, Bohnen (man kann sich aus verschiedenen Sorten eine auswählen), Kaffee, Körner, Streichhölzer, Brennstoff und Kleidung. Der pensionierte Neurologe erzählt weiter, dass es jedoch manchmal zu Verzögerungen, durch verspätete Lieferungen komme, weshalb die Waren nicht immer zur Verfügung stehen würden. In der Regel würde bei solchen Fällen die Menge der fehlenden Produkte im nächsten Monat nachgereicht werden.

In den Anfangsjahren der Libreta gab es diese Spezifizierung jedoch noch nicht, denn damals stand sogar einem Neugeborenen ein monatlicher Liter Rum zu. Dies wurde allerdings als Fehler anerkannt und in den nächsten Jahren ging man vermehrt auf die Lebensumstände ein. Die Befriedigung von allen spezifischen Bedürfnissen kann bisher allerdings noch nicht gewährleistet werden, da dem Staat dafür die Mittel fehlen. Jedoch ist die Libreta ein Mittel, welches das Zustandekommen der verhältnismäßig niedrigen Löhne auf Cuba erklärt. Dadurch, dass die Preise für beispielsweise Miete, Wasser, Strom, und Gas unbedeutend sind, Nahrungsmittel sowie Haushaltswaren kaum Kosten verursachen und viele Dinge im Alltag – wie Transport oder Kulturveranstaltungen – ebenfalls subventioniert werden, müssen CubanerInnen nicht das bezahlen, was EuropäerInnen monatlich ausgeben. Klar sind 20 CUC im Monat noch immer wenig, trotzdem darf man den Durchschnittslohn nicht aus einer deutschen Perspektive betrachten.

Wie kam es zu ihrer Einführung?

Die Libreta wurde am 12. März 1962 eingeführt, um die Grundversorgung der cubanischen Bevölkerung und die aufgrund des US-Handelsembargos knapper werdenden Artikel des täglichen Bedarfs, nach dem Wegfall der Sowjetunion und der darauf folgenden Spezialperiode, absichern zu können. Auch in anderen Ländern gab es in schlimmen Krisenzeiten Verteilungssysteme – nur mit anderem Namen – damit keiner hungern musste und das wenige was es gab, nicht bei einzelnen Personen blieb. Natürlich war das nicht überall auf der Welt so und nach dem Überwinden von Nachkriegszeiten, wurden diese Systeme auch wieder abgeschafft, doch in Cuba ist die Libreta bis heute bestehen geblieben. Seit 53 Jahren profitiert die Bevölkerung, egal ob arm oder reich, also schon von diesem gerechten System. „Sie ist ein Anachronismus, denn sie sorgt heute für Ungleichheit, obgleich sie geschaffen wurde, um Gleichheit zu garantieren.“ Dieses Zitat eines Angestellten im Forschungsinstitut der cubanischen Wirtschaft, zeigt jedoch, dass die Libreta nicht nur positive Seiten hat. Zwar wird durch die Verteilung abgesichert, dass die BürgerInnen alle die gleichen Mengen an Nahrungsmitteln und anderen Gütern erhalten, doch wird dabei kein Augenmerk auf deren finanzielle Lebenssituation und ihr monatliches Gehalt gelegt. So bekommen Bedürftige die gleichen Mengen zugeteilt, wie Andere die z.B. im Touristensektor arbeiten und nicht auf die Subventionen angewiesen sind. Wohlhabende können sich also an der Libreta bereichern, während andere nicht genug besitzen. (Mehr über den Einfluss des Tourismus auf die finanzielle Spaltung der Bevölkerung, findet ihr hier)

Eine zu große Last für den Staat?

Die Libreta kostet den Staat jährlich ca. 1 Milliarde US-Dollar, da die beinhalteten Güter unter den Produktionskosten verkauft werden. Das sei zu viel, sagt Raúl Castro, der 2006 an die Stelle seines Bruders trat und in mehreren Reden auf die Defizite in der heimischen Landwirtschaft und die steigenden Importpreise hingewiesen hat: „Die Libreta ist im Laufe der Jahre zu einer unerträglichen Belastung für den Staat geworden, vermindert den Anreiz Arbeiten zu gehen und führt zu zahlreichen Unregelmäßigkeiten“. Subventionierte Güter, die durch die Libreta erworben wurden, würden auf dem Schwarzmarkt zu höheren Preisen verkauft werden. Castro kündigte an, nicht mehr Produkte zu subventionieren, sondern bedürftige Personen direkt zu unterstützen, was sogar in den Lineamentos, den Wirtschaftsaktualisierungen – Richtlinie 173 und 174 – festgehalten ist. Doch diese Worte versetzten die Bevölkerung in eine derartige Unruhe, dass er im April 2011 beschwichtigte: „Niemand der bei Sinnen ist, kann ernsthaft erwägen dieses System abzuschaffen, ohne die nötigen Vorkehrungen zu treffen.“ Trotzdem wurden viele Produkte gestrichen oder die Menge der Übriggebliebenen verringert. Seife, Zahnpasta, Kichererbsen und Rindfleisch z.B., sind keine Bestandteile der Libreta mehr. Um manche dieser Produkte zu erwerben, müssen die CubanerInnen nun auch in Devisenläden einkaufen gehen und ausgehend von ihrem monatlichen Lohn, viel Geld ausgeben, da nicht mehr alle dieser Produkte in den Bodegas erhältlich sind. Die Güter, die weiterhin in den Bodegas angeboten werden und nicht mehr Teil der Libreta sind, haben trotzdem noch deutlich geringere Preise, als in den CUC-Shops. Auch spezielle Güter wie Bier und Gebäck, die den Cubanern früher an Weihnachten oder Geburtstagen zustanden, genauso wie das gesundheitspolitisch fragwürdige Anrecht auf Zigaretten und Zigarren für jede Person ab dem 17. Lebensjahr, wurden aus dem Heft gestrichen. Heute sind sie ausschließlich auf dem freien Markt erhältlich.

Zukunft der Libreta – Abschaffung oder Veränderung?

„Allein mit der Libreta kann niemand leben, aber ohne erst recht nicht“, lautet ein gängiger Spruch auf Cuba. An eine Abschaffung des kleinen Heftchens ist also noch nicht zu denken, da zu viele BürgerInnen auf die beinhalteten Subventionen angewiesen sind. Auch wenn die westlichen Medien gerne den Anschein von großem Elend verbreiten, muss man zeigen, dass in Cuba niemand verhungern muss. Das Angebot mag nicht unbedingt besonders abwechslungsreich oder groß sein, trotzdem ermöglicht der Staat mit seinen geringen ökonomischen Handlungsmöglichkeiten seiner Bevölkerung eine Basis für die Grundversorgung. Und das schon seit 53 Jahren. Dabei ist Cuba das einzige Land auf der ganzen Welt, das sich um die Versorgung seiner Bevölkerung so kümmert und jedem Bürger regelmäßig Essen nahezu schenkt, wie es nirgends sonst passiert. Nimmt man Raúl Castro jedoch beim Wort, kann man sich darauf verlassen, dass die nötigen Schritte eingeleitet werden, um die Bedürftigen zu unterstützen und das Wohl der Bevölkerung zu sichern und auszubauen. Seiner Meinung nach, eines Tages vielleicht sogar ohne die Libreta.

Dabei sagen einige Cubaner, dass eine Abschaffung gar nicht notwendig sei, um die Kosten des Staats zu verringern und der Bevölkerung trotzdem entgegen zu kommen. Die herrschenden Probleme würden damit nicht gelöst werden. Wenn man jetzt also von dem Gedanken absieht, die Libreta abzuschaffen und sich um Alternativen bemüht, merkt man, dass dieses Problem nicht aussichtslos ist. Gesetz dem Fall, man würde die Libreta künftig nur noch denjenigen zur Verfügung stellen, die arbeiten gehen, sowie Kindern, Pensionierten und Jugendlichen in Ausbildung, könnte man das System für alle verbessern. Denn wenn die Waren in der Libreta dann zu den Preisen angeboten werden, die für deren Produktion aufgebracht werden müssen und die Löhne um eben diesen Betrag erhöht werden würden, dann könnten die staatlich Angestellten weiterhin ohne Mehrkosten von der Libreta profitieren und alle, die nicht arbeiten gehen wollen, zum Beispiel weil sie sich ausschließlich durch Verwandte aus dem Ausland finanzieren lassen und keinen gesellschaftlichen Beitrag leisten o.ä., fielen dem Staat nicht mehr zur Last. Denn auch wenn sie die Libreta beanspruchen wollen, müssen sie die Produktionskosten bezahlen. So würden dem Staat keine Gelder fehlen und das gerechte und wichtige Verteilungssystem könnte weiter bestehen!

Dieser Artikel ist von Sophie. Mehr von ihr gibts hier!

8 Gedanken zu „Kein Bier mehr zum Geburtstag“

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  7. Zur Libreta
    Ihr seid wirklich süß. Ich respektiere Eure Begeisterung für das Kubanische System, und 5 Peso für 1 Pfund Reis erscheint wenig. Wenn man allerdings mal nachrechnet, also 20 CUC als offiziellen Monatslohn nimmt, sind das 480 Peso Monatslohn. Stellt Euch mal vor in Deutschland müsste ein Rentner der vielleicht nur 450 Euro bekommt, 5 Euro für ein Pfund Reis bezahlen. Das gäbe hier aber mal einen richtigen Aufschrei. Aber ich kann Euch beruhigen, kein Kubaner kommt mit diesen 20 CUC aus und alles wissen das. Deswegen wird ja auch ständig und überall der Staat beklaut. Das wird offiziell sozusagen schon einkalkuliert. Als Beispiel sei hier die Lizenzgebühr für die Private Zimmervermietung angeführt. Für jedes Zimmer muss der Vermieter im Monat 150 CUC bezahlen, egal ob er Mieter hat oder nicht. Das geht noch nicht einmal in Havanna, wo das Zimmer 25 CUC pro Naht kostet. Aber schon garnicht auf dem Lande, wo vielleicht 1 bis 2 CUC realisiert werden können. Also sind alle Zimmervermieter gezwungen zu betrügen. So funktioniert das natürlich nicht so gut und keiner ist richtig motiviert sich beruflich zu bewegen.
    Noch einmal zum Schluß. Ich finde Euren Blog sehr gut und anregend. Dennoch wäre eine kritische Distanz angebracht.

  8. Zu Deinem letzten Vorschlag: Das käme wieder auf exakt das selbe heruas da fast jeder in eine der von dir genannten Kategorien fällt: Entweder man arbeitet in Kuba, ist Kind, Jugendlicher oder Pensionär. Wobei ich eher denke, dass gerade die wenigen Arbeitslosen auch in Zukunft die Libreta in Anspruch nehmen sollten.

    Die Produkte zum unsubventionierten Selbstkostenpreis anzubieten bringt gar nichts, so lange der Staat die Löhne die er selbst ausbezahlt entsprechend erhöht. Das ist ein Nullsummenspiel. Wichtig wäre es, die Produktivität so zu steigern, dass der Durchschnittskubaner sich auf den zahlreichen Bauernmärkten selbst mit Lebensmitteln versorgen kann die er sich von seinem Gehalt leisten kann. Zusätzlich könnte man Zweckgebundene Subventionen an bestimmte Personenkreise (Arbeitslose, Auszubildende, etc.) vergeben.

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