Ungeschriebene Gesetze

Über die Sitzplatzhierarchie in cubanischen Stadtbussen

Akteure einer zehnminütigen Busfahrt durch Havanna: Der Busfahrer, der anhält und die Tür für eine alte winkende Dame öffnet, die anschließend im Schneckentempo die Straße überquert und sich in den Bus hievt. Der Junge, der das Gespräch mit seiner Freundin unterbricht um der alten Dame seinen Platz anzubieten. Der junge Mann, der für eine schwangere Frau den Platz frei macht. Die alte Dame, die vorhin den Platz erhalten hat und jetzt den Rucksack des jungen Mannes halten möchte. Der Greis, der beim Aussteigen die alte Dame auf seinen Platz winkt damit der Junge vom Anfang wieder neben seiner Freundin sitzen und das Gespräch fortsetzen kann.

Busfahren ist außergewöhnlich. Man wartet im Durchschnitt 30 Minuten auf einen klapprigen, Unmengen Abgase ausstoßenden Metrobus der alten YUTONG-Flotte, die ursprügnlich aus China kommt. Manche haben funktionierende Anzeigen mit der Zahl ihrer Buslinie über der Windschutzscheibe, andere nur ein Schild neben dem Fahrer klemmen. Die meisten Busse verlieren Teile der Innenwände, weshalb man während der Fahrt in Ruhe die verschiedenen Schichten des Dämmmaterials betrachten kann. Das ist fast so spannend, wie durch die Löcher im Fußboden die Straße oder die Räder zu betrachten. An der Bushaltestelle fragt jeder Neudazukommende, laut nach dem letzten in der Schlange. „ULTIMO?“ wird dann so lange gerufen bis sich der bisher Letzte meldet. Beim Einsteigen in den Bus achtet jeder eigenständig darauf, dass sein persönlicher Ultimo vor ihm ist. Zu Chaos führt das nur, wenn jemand ohne sich abzumelden die Haltestelle verlassen hat und daher die Reihenfolge unklar ist. Schließlich steht man nicht in einer Schlange hintereinander an und könnte daraus schließen, wer derjenige vor dem eigenen Ultimo gewesen ist, sondern sitzt und steht quer verteilt in einem großen Radius um die Haltestelle herum. Wenn sich dann alle mehr oder weniger geordnet durch die Fahrertür des Busses quetschen und ihre 40ct in Moneda-Nacional (umgerechnet 1 Eurocent) bezahlt haben, geht das große Gedränge und Geschiebe innerhalb des Busses weiter. Wer gerade kein Geld dabei hat, wird natürlich auch mitgenommen, weil man davon ausgeht, dass er beim nächsten Mal einfach mehr bezahlt.

Man findet sich also halb zerquetscht zwischen viel zu vielen Fahrgästen wieder und fängt spätestens hier an sich alle paar Sekunden den Schweiß von der Stirn zu wischen. Zwar ist die Hälfte der Fenster offen, doch bringt das nicht viel, solange der Bus nicht fährt, was bei Stadtverkehr und schlaglochübersähten Straßen nicht immer der Fall ist. Der eigene Schweiß und der der anderen Fahrgäste vermischen sich, wenn der Busfahrer scharf bremst und man aufeinander geworfen wird. Fallen würde dabei keiner, denn schon bei drohendem Ungleichgewicht reagieren die Menschen um einen, indem sie einen stützen oder festhalten. Man beginnt schon 1 ½ Haltestellen vor derjenigen, bei der man den Bus verlassen möchte, sich in Richtung Ausgang zu schieben, immer in der stummen Verhandlung mit den anderen Fahrgästen, an welcher Stange noch Platz ist, um sich festzuhalten.

Grundsätzlich sind die Busse überfüllt, nur manchmal hat man Glück, wenn zwei Busse direkt hintereinander kommen und man den hinteren erwischt hat, denn geregelte Fahrzeiten gibt es nicht. Passen durch die Fahrertür nicht ausreichend Leute, erhält der Mensch, der auf dem ersten Platz in Richtung Bürgersteig sitzt, den Auftrag, den Fahrpreis von den Leuten vor dem Bus einzusammeln, damit sie ihr Glück an den hinteren Türen versuchen können. Manchmal fährt man deshalb mit, obwohl es nur ein Arm und ein Bein in den Bus geschafft haben. Man hängt die ersten Meter der Fahrt mehr draußen als drinnen und versucht sich vor die zugehenden Türen zu schieben. Man könnte meinen, wer einen Sitzplatz hat, der hat gewonnen.

Jeder Bus hat im vorderen Teil mehrere gelbe Sitze, alle in Fahrtrichtung ausgerichtet. Diese sind alten Menschen, schwangeren Frauen, Menschen mit körperlichen Einschränkungen und Kindern vorbehalten. Wenn man nicht zu dieser Gruppe gehört, steht man eigentlich auf, sobald sich jemand nähert, der danach aussieht als würde er zu dieser Gruppe gehören. Ganz selten erlebt man, wie jemand darum bittet, dort sitzen zu dürfen, denn in der Regel stehen gleich mehrere Leute von selbst auf. Die meisten, die auf diesen Plätzen sitzen, sind wachsam und beobachten die neu eingestiegenen Personen, um nicht unabsichtlich jemanden zu übersehen. Doch diese Wachsamkeit beschränkt sich nicht nur auf die Menschen, die auf gelben Stühlen sitzen. Für den Großteil der Fahrgäste ist dies die generelle Haltung während des Busfahrens, auch wenn man auf den blauen Stühlen sitzt. Man achtet darauf, ob man jemandem seinen Sitzplatz anbieten kann. Dies folgt einer genauen Bus-Hierarchie. Ganz oben stehen alle Menschen, für die die gelben Sitze vorbehalten sind. Danach kommen Mädchen und Frauen im Allgemeinen, bevorzugt werden dabei die jüngsten und die ältesten, danach kommen Menschen mit schwerem Gepäck und zu aller Letzt Männer. Die meisten Männer die älter als 12 Jahre und gefühlt jünger als 93 sind, stehen die meiste Zeit im Bus, weil sie all den anderen Menschen seinen Platz anbieten. Auch wenn man als Frau versucht einem alten Mann seinen Platz anzubieten, weil er bei jeder abrupten Bewegung des Busses droht umzufallen, hat man keine Chance. Man wird auf seinen Sitz zurück geschoben, auch wenn man versucht deutlich zu machen, dass man sowieso gleich aussteigen müsste. Kein Mann möchte mit der Schande leben, dass eine Frau für ihn seinen Sitz hergegeben hat. Doch zu dieser Frage schreiben wir sicherlich an anderer Stelle noch mehr.

Wenn man seinen Sitzplatz abgibt und zum Beispiel einen Rucksack dabei hat, oder schwere Einkäufe trägt, ist es nahezu selbstverständlich, dass die nun sitzende Person einem die Last abnimmt und sie auf ihrem Schoß verstaut, manchmal auch das Gepäck von mehreren umstehenden Personen. Möchte jemand aussteigen und verlässt deshalb seinen Sitzplatz, blickt er um sich, um diesen gezielt an jemanden anderen weiterzugeben. Die Person also, die gerade noch gesessen hat, bestimmt wer in der Sitzhierarchie am höchsten steht und deshalb die Ehre hat den freien Platz einzunehmen. Die Umstehenden sorgen in der Regel mit dafür, dass der Wunsch der aussteigenden Person erfüllt wird und sich nicht jemand ganz frech dazwischenmogelt. Gegen die Busregeln verstößt man nicht, das ist klar. Denn sie sind – wie so vieles – keine geschriebenen Gesetze, sondern gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten. Man achtet auf seine Mitmenschen, hilft den Schwachen, besteht auf Recht und Ordnung. Der bittere Beigeschmack des Machismo ist nicht stark genug, um unser Erstaunen über die Aufmerksamkeit aller Beteiligten zu trüben, geschweige denn die Schönheit dieser Zwischenmenschlichkeit in Frage zu stellen.

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  9. Das ist mit Abstand die beste Beschreibung der kubanischen Umgangsformen, die ich je gelesen habe! Auch wenn sie nur den Teilaspekt des Busfahrens beleuchtet 😉 Paula, ich bin begeistert und verblüfft. Ich bin auch gespannt auf deine Zeilen zum Machismo. Ich selbst habe 2009 ein Praktikum am Hospital Manuel Fajardo absolviert und habe Busfahren in Havanna geliebt!

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